Positionspapier einer Mutter und Psychologin
Das Pflegschaftsrecht hat sich im Jahr 2013, unter anderem auf Drängen militanter Väterrechtsorganisationen, geändert. Aufgrund dieser Änderungen poppten „psychologische“ Konzepte und Literatur auf, von denen ich weder in meinen Ausbildungen noch in meiner Arbeit je gehört habe, andere fundierte psychologische Mechanismen werden hingegen ignoriert. Ich möchte ausschnittsweise auf einige dieser psychologischen Aspekte näher eingehen.
Die Bedeutung der primären Bindungsperson
Bis auf Ausnahmefälle ist dies die Mutter, da die Bindung schon im Mutterleib beginnt und durch den intensiven Kontakt zwischen Mutter und Kind, der zum Teil durch biologische Gegebenheiten, z.B. durch die Schwangerschaft und das Stillen, gefestigt wird. Darüber hinaus ist in den meisten Familien die Mutter die, die primär für das Kind zuständig ist, was sich anhand der immer noch hohen Karenzzahlen bei Müttern (aber nicht bei Vätern) bestätigen lässt. Die Mutter als primäre Bindungs- und Bezugsperson ist für eine Reihe psychischer und körperlicher Entwicklungsfaktoren des Kindes maßgeblich. So kann beispielsweise Urvertrauen, eine grundsätzliche Überzeugung in der Welt gut aufgehoben und geborgen zu sein, nur dann entwickeln, wenn die Mutter auch stabil für das Kind da sein kann. Wird die Mutter, die für das Kind Quelle von Vertrauen, Orientierung und Geborgenheit ist, ständig irritiert, was häufig durch Gerichtsverfahren und Abklärungen bei der Familiengerichtshilfe, Gutachtern o.ä. passiert und führt dies mitunter sogar zu psychischen Erkrankungen der Mutter (z.B. in Form von reaktiven Depressionen, posttraumtischen Belastungsstörungen) wirken sich diese auch massiv nachteilig auf die psychische und körperliche Unversehrtheit des Kindes aus. Die Mutter-Kind-Bindung kann gestört werden, wenn Kinder in zu jungen Jahren zu lange Zeit von der Mutter getrennt sind. Es ist in familienrechtlichen Entscheidungen keine Seltenheit, dass schon Kleinkinder oft mehrmals bei Vätern übernachten müssen, die nie oder nicht lange im Alltagsleben der Kinder präsent waren. Die Entwicklungsforschung im Bereich der Bindung zeigt, dass wiederholte und längere Abwesenheiten der primären Bezugsperson bei Kindern bis zum Vorschulalter mit einzigartigem Stress besetzt sind. Dieser Stress wird beim Wiedertreffen der primären Bezugsperson durch das irritierte, unsichere, wütende oder ambivalente Verhalten des Kindes zum Ausdruck gebracht und kann in weiterer Folge zu psychosomatischen Symptomen führen. Studien über Kleinkindern mit Übernachtungsbetreuung (e.g. Solomon und George, 1999) stellten ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung einer unsicheren und desorganisierten Bindung mit der primären Bezugsperson fest. Die Ausbildung eines solchen Bindungsstils stört nicht nur die Bindung zwischen Mutter und Kind per se, sondern ist mit verschiedensten psychischen Erkrankungen, sowie mit einer eingeschränkten Beziehungsfähigkeit im Jugend- und Erwachsenalter verbunden.
Der Wille des Kindes zu Kontakten
Bedenklich ist auch, dass der Wille der Kinder erst ab 14 Jahren rechtlich relevant ist. Dies ist psychologisch gesehen nicht erklärbar, da schon kleine Kinder mit drei bis vier Jahren alle psychischen Kompetenzen erwerben, um einen autonomen und stabilen Willen äußern zu können. Im Gegensatz zu älteren Kindern ist dieser sogar weniger berechnend und von Werten und Normen unabhängiger. Das Nichtbeachten des Willens von Kindern ist nicht nur von der Entwicklungspsychologie her nicht nachvollziehbar, sondern kann sich auch massiv negativ auf die Entwicklung der sogenannten Selbstwirksamkeit auswirken. Schon junge Kinder im Vorschulalter entwickeln eine Überzeugung der eigenen Bedeutung und ein Bewusstsein dafür die eigene Welt gestalten zu können. Diese Selbstwirksamkeit hat nicht nur Auswirkungen auf das spätere, auch schulische, Leistungsverhalten, sondern auch auf viele andere Bereiche, wie das generelle Selbstwertgefühl. Das Gegenstück zur Selbstwirksamkeit ist die erlernte Hilflosigkeit. Widerwillen und Abneigung, etwas regelmäßig gegen den eigenen Willen machen zu müssen, wie beispielweise mitunter mehrtägige Übernachtungskontakte fernab der vertrauten Umgebung verbringen zu müssen, führt zu Angst und Vermeidungsreaktionen. Die wiederholte Konfrontation mit derartigen Situationen, die das Kind als nicht erwünscht und außerhalb seiner Kontrolle liegend sieht, wirken sich auf die Entwicklung das Kindes langfristig hemmend aus. Es entsteht die generelle Vorstellung, dass sein Verhalten nur geringe Auswirkungen auf die Umwelt hat. Es entsteht Mutlosigkeit und das Kind verliert seine Neugier, seinen Explorationswillen und seine Lebensfreude. Im erwachsenen Alter erleben Personen mit geringer Selbstwirksamkeitserwartung das Gefühl nur Spielball der Umstände zu sein und ihr Leben nicht selbst positiv gestalten zu können. Wichtig anzumerken ist an dieser Stelle noch, dass das bloße Anhören, aber nicht Beachten, des Kindwillen, sogar weitere nachteiligere Folgen haben kann, da das Gefühl, dass der eigene Wille nicht zählt, damit mitunter noch verstärkt werden kann.
„Bindungstoleranz“
Ein Konzept, von dem ich weder in meinem Studium (und dieses ist noch keine Ewigkeit her), noch in diversen Ausbildungen, die ich nach meinem Studium absolviert habe, gehört habe und auch anderen PsychologInnen und PsychotherapeutInnen, die nicht im Pflegschaftsbereich tätig sind, nicht bekannt beziehungsweise nicht nachvollziehbar ist, ist das der „Bindungstoleranz“. Dieses poppt seit der Gesetzesänderung 2013 massenhaft als „Totschlagargument“ in Gutachten oder Stellungnahmen der Familiengerichtshilfe betreffend Müttern auf, die Kontakt oder eine nicht enden wollende Kontaktausweitung zum Vater nicht gutheißen. Es impliziert indirekt, dass Kontakt zum Vater in jedem Fall positiv ist. So stellt sich beispielweise die Frage, ist es einer Mutter anzulasten, dass sie Kontakt mit einem Vater, mit dem sie selbst und /oder ihr Kind körperliche und/oder psychische Gewalt erlebt hat, ihrem Kind nicht zumuten möchte? Ist es nicht ihre Verantwortung und ihre Pflicht das Kind vor mutmaßlichen schädlichen Einflüssen zu schützen und Recht des Kindes vor diesen geschützt zu werden? Müttern, denen nichts anzulasten ist, wird eine eingeschränkte Bindungstoleranz „attestiert“ und sie werden sogar „als eingeschränkt erziehungsfähig“ beurteilt. Dies steht im Gegensatz zu Rückmeldungen von Einrichtungen, die tagtäglich mit dem Kind zusammen sind, wie Kindergarten oder Schule. Es scheint so als wäre dieses Konzept ins Leben gerufen worden, um liebevolle Mütter, aus deren Umfeld sonst niemand auf die Idee kommen würde sie als „eingeschränkt erziehungsfähig“ zu sehen, mundtot zu machen. Um das Schlagwort „Bindungstoleranz“ tatsächlich fachlich korrekt als psychologisches Konzept anwenden zu können, müsste es genauer ausdifferenziert werden und in dieser genauen Differenzierung auf den Einzelfall bezogen betrachtet werden. Dazu gehört auch, dass eine genaue Exploration und differenzierte Darstellung dieser „Bindungstoleranz“, sofern diese wirklich fachlich fundiert werden kann, notwendiger weise beim Vater zu prüfen ist. Ansonsten würde das Konzept eine Ungleichbehandlung im Gerichtsverfahren darstellen. Wie kann beispielsweise die „Bindungstoleranz“ eines Vaters gegeben sein, der die Mutter über Jahre im Rahmen von Gerichtsverfahren schlecht macht oder eines Vaters, der bei Kontakten trotz des ausdrücklichen Wunsch des Kindes, keinerlei Kontaktaufnahme des Kindes zur Mutter zulässt.
Reaktanz
Ein weiterer psychologischer Mechanismus, der in Pflegschaftsverfahren ignoriert wird, ist der der Reaktanz. Es handelt sich dabei um eine psychische Abwehrreaktion, also einen Widerstand gegen Einschränkungen, z. B. bei psychischem Druck oder Freiheitseinschränkungen durch Zesur o. ä. Oftmals wird in Pflegschaftverfahren mit psychischem Druck oder Zwangsmittel gearbeitet, was eine Reaktanzreaktion auslöst, nämlich dass genau gegen das, was durchgesetzt werden soll, reagiert wird. Es ist vielfach zu beobachten, dass Mütter die grundsätzlich zu Beginn eines Verfahrens Kontakten zum Vater positiv eingestellt waren, nach mehreren Jahren, in denen sie zu immer mehr Kontakt und dem Teilen der Obsorge gedrängt wurden, tatsächlich dagegen agierten.
Hochkonflikthaftigkeit
Konflikte, insbesondere hochstrittige Fälle, sind komplexe teilweise über viele Jahre gewachsene Konstrukte, wobei oft auch psychische und/oder körperliche Gewalt Thema waren oder sind. Problematisch ist dabei die Forderung nach gemeinsamen Gesprächen und Austausch zwischen den Eltern, ebenso wie eine andauernde Konfrontation im Rahmen von Gerichtsverfahren, besonders vor dem Hintergrund von Gewaltgeschichten. Dadurch kann es bei den betroffenen Müttern zu Re-Traumatisierungen kommen, die schwerwiegende Folgen für ihre Gesundheit haben. Auch führt dies dazu, dass die Mütter in einer Gewaltbeziehung gehalten werden, indem die Gewalt zumeist von der körperlichen auf die psychische Ebene verlagert wird und die Gewalttäter sogar das Pflegschaftssystem für sich nutzen, um Gewalt auf einer psychischen Ebene weiter anzuwenden. Nicht selten kommt es dabei zu einem Victim-Blaming, einer Täter-Opfer-Umkehr, die mitunter von Institutionen bedient wird, indem diese Gewalt nicht ernst nehmen oder die Opfer psychologisieren, im schlimmsten Fall pathologisieren.
Insgesamt macht es Sinn Kinder als das zu sehen, was sie sind, nämlich menschliche Individuen, die das Recht auf ein friedliches Aufwachsen, die Beachtung ihrer Meinung und Wünsche haben, weg von einem mechanischen Verständnis von tatsächlichen komplexen menschlichen Realitäten. Ein Kind ist weder ein Paket, das von einem System in ein teilweise konträreres anderes System gestellt werden kann, noch ein Versuchsobjekt bei dem Kontakte zu einem teilweise im Alltagsleben der Kinder nie präsent gewesenen und nicht als stabile Bindungsperson fungierenden Vater, so lange ausgeweitet werden, bis das Kind körperliche und/oder psychische Symptome entwickelt. Diese stellen einen Hilfeschrei der Kinder dar, werden jedoch von den eigentlich für das Kindeswohl zuständigen Institutionen oft ohne diese genau zu hinterfragen als „Reaktion auf den Konflikt der Eltern“ abgetan und machen somit eine Besserung dieser Symptome unmöglich, bis hin zu einem völligen körperlichen und/oder psychischen Zusammenbruch der Kinder.
Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung verlässliche, vorhersagbare Umgebungsbedingungen und einen Ort, an dem sie Wurzeln schlagen können.
Die derzeitige Gesetzeslage macht mir als Mutter und Psychologin Sorgen, denn der Versuch ein kleines Wesen möglichst gerecht zwischen zwei Systemen aufzuteilen, geht in den meisten Fällen zu Ungunsten des Kindes aus, das Gegenteil von dem, was dieses Gesetz eigentlich tun sollte.
Autorin Anonym
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