Institutionelle Gewalt im familiengerichtlichen Kontext

Erschienen in “MÜTTER KLAGEN AN- Institutionelle Gewalt gegen Frauen und Kinder im Familiengericht” von Christina Mundlos

Beitrag von Susanne Wunderer, FEM.A

An Österreichs Familiengerichten werden pro Jahr aktuell rund 11.000 Kontaktrechtsverfahren und 13.500 Obsorgeverfahren geführt, wobei die Tendenz bei ersteren stark steigend ist (Zunahme um 76% im Zeitraum 2010 – 2019). International geht man von 5 – 10% (hoch-)strittiger Verfahren aus. Verfügbare Zahlen aus Österreich lassen jedoch vermuten, dass der Prozentsatz deutlich höher ist und bei Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren aktuell eher bei 20 – 25% liegt.1

Der Leidensdruck von Müttern ist in den vergangenen Jahren größer geworden. Viele Organisationen orten einen erhöhten spezifischen Beratungsbedarf. Daher hat der Verein FEM.A am 1.10.2021 das FEM.A Telefon aus der Taufe gehoben, an das man sich kostenlos mit Fragen rund um das eigene Pflegschafts- und Unterhaltsverfahren wenden kann. Als diejenige, die das Telefon betreut, ist mein Eindruck: an Österreichs Familiengerichten geht es stark um Ideologie, Fakten spielen viel zu oft eine bedauernswerte Nebenrolle.

Was ich am FEM.A Telefon höre.

Es sind hauptsächlich Mütter, die anrufen, hin und wieder auch Großmütter, die ihre Töchter unterstützen, Väter sind selten dabei. Sie wenden sich an das FEM.A Telefon, weil sich ein Pflegschaftsverfahren ankündigt und sie wissen wollen, was auf sie zukommt. Oder weil sie gerade die erste Tagsatzung hinter sich haben, die gänzlich anders verlaufen ist, als sie sich das vorgestellt haben. Manche haben bereits eine jahrelange gerichtliche Vorgeschichte, manche sind anwaltlich vertreten, manche können sich einen Anwalt nicht leisten, in manchen Fällen sind andere Institutionen wie die Familiengerichtshilfe oder Kinder- und Jugendhilfe involviert, manchen steht gerade ein Sachverständigengutachten bevor oder sie haben es gerade erhalten. Besonders dramatisch sind die Anrufe, wo es Kindesabnahmen oder Umplatzierungen zum anderen Elternteil gegeben hat.

Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es doch auffällige Parallelen:

  • Auf der einen Seite findet man häufig Väter, die sich in aufrechter Beziehung wenig oder gar nicht um die Kinder gekümmert haben, die ihre Partnerinnen stark kontrolliert haben, oftmals mit zwanghaft nötigendem Charakter (Kontrolle über Finanzen – wofür darf wie viel Geld ausgegeben werden?, Kontrolle über Sozialkontakte – mit wem darf sich die Partnerin treffen?, Kontrolle über die Kommunikation – z.B. über das Handy, etc.). Nicht selten sind auch physische Gewalt sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch im Spiel. Diese Väter drohen ihren Partnerinnen für den Fall der Trennung oftmals explizit Konsequenzen an, wie „Ich nehm dir die Kinder weg. Ich weiß, wie das geht.“ oder „Wenn du gehst, bekommst du keinen Cent Kindesunterhalt von mir.“ oder „Ich mach dich fertig. Du bekommst nie wieder einen Job.“ Manche drohen sogar mit Mord.
  • Auf der anderen Seite stehen häufig Mütter, die es geschafft haben, sich aus der Beziehung zu ihrem toxischen Ex zu lösen, jetzt ihr Leben zurück haben wollen, sich stattdessen aber am gerichtlichen Gängelband ihrer Ex-Männer wieder finden. Es sind oftmals gut ausgebildete Frauen, die mit ihrem Gehalt sich und das Kind ernähren können. Diese Frauen sind gewohnt, sich zu informieren und nachzulesen, sei es über Kindererziehung oder über Gerichtsverfahren. Sie sind selbstreflektiert und haben hohe Ansprüche an sich als Mutter. Sie befürworten, dass der Vater Kontakt zum Kind hat, allerdings nur in einem Rahmen, in dem seine Toxizität nicht zu Lasten des Kindes geht. Angesichts der überbordenden Forderungen des Vaters nach immer mehr Kontakt bis hin zum hauptsächlichen Aufenthalt mit alleiniger Obsorge, finden sie sich plötzlich in der Rolle der Abwehrenden, derjeniger, die Nein sagen muss, die einschränken muss. Wo sie doch zuvor die Zulassenden, die Unterstützenden waren, diejenigen, denen ein guter Kontakt des Kindes zum Vater stets wichtig war.

Verkehrte Welt: Ideologie statt Fakten.

Viele der Anruferinnen / der Anrufer fühlen sich in Pflegschaftsverfahren in einer verkehrten Welt. Denn Wissenschaft, Fakten oder selbst basale Regeln des Zusammenlebens scheinen plötzlich nicht mehr zu gelten. Österreich wird international dafür gelobt, dass es das Kindeswohl in seinem Rechtssystem explizit ausformuliert (§ 138 ABGB) und die Kinderrechte (zwar nicht vollumfänglich, aber immerhin) in der Verfassung verankert hat. All das wird jedoch ausgehebelt, wenn man einer Ideologie gestattet, in der Rechtsprechung Raum zu ergreifen.

Ich höre immer wieder dieselben Erzählungen:

  • von unterschiedlichen Maßstäben, die für Mütter und Väter gelten.
    Während sich Mütter den Vorwurf der Manipulation und Kindesentfremdung gefallen lassen müssen, sobald sie einem Kontaktwunsch des Vaters nicht zustimmen, gilt für Väter anderes. Gerade im Fall von Umplatzierungen der Kinder zum Vater passiert es nicht selten, dass die Kinder vom Kontakt zur Mutter völlig abgeschnitten werden. Dies gänzlich ohne Konsequenzen für die Väter, und die betroffenen Mütter erinnern sich an diesem Punkt bass erstaunt an die enervierenden Diskussionen vor der Umplatzierung zum Beispiel mit der Familiengerichtshilfe, in denen sie sich mühsam rechtfertigen mussten, warum das Kind vergangenen Sonntag mit 39 Grad Fieber nicht mit dem Vater telefonieren wollte.
  • von Gewalt, Alkohol- oder Drogenmissbrauch, die keine Rolle spielen.
    Während Väter einen Freibrief zu genießen scheinen, werden Mütter bei entsprechenden Vorwürfen unter staatliche Kuratel (zum Beispiel in Form von verpflichtender ambulanter Betreuung durch die Kinder- und Jugendhilfe) genommen oder die Kinder werden ihnen sogar zwangsweise abgenommen. Und nicht nur das: bringt eine Mutter ihre Erfahrungen mit Gewalt, Alkohol- oder Drogenmissbrauch des Vaters vor, wird sie beschuldigt, den Vater lediglich schlecht machen zu wollen. Mit diesem Argument wird ihr dann die Erziehungsfähigkeit teilweise oder zur Gänze abgesprochen.
  • Vom Unwort „Sexueller Missbrauch“ – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
    Wehe einer Mutter, die den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs erhebt, mag er durch Psycholog*innen und Ärzt*innen noch so gut fundiert sein, und mögen die Aussagen des Kindes und andere Hinweise noch so eindeutig sein. Es wird dann lieber die Glaubwürdigkeit des Kindes begutachtet, als dass der Vater in Zweifel gezogen wird. Nachdem es bei sexuellem Missbrauch nur in seltenen Ausnahmen zwingende Beweise gibt, ist es ein Leichtes, den Vorwurf als im Zweifel unbestätigt gelten zu lassen. Somit ist die Sache vom Tisch und die Mutter wird gezwungen, die Kontakte zwischen Vater und Kind wieder zuzulassen. Wenn sie sich weigert, riskiert sie eine zwangsweise Fremdunterbringung oder Umplatzierung zum Vater.
  • Vom Gefühl, es nicht richtig machen zu können.
    Mütter berichten, dass sie das Gefühl haben, dass ihnen jedes Wort im Mund umgedreht wird und egal, was sie sagen, es jedenfalls falsch ist. Wenn sie eine Kindeswohlgefährdung beim Vater sehen und eine Gefährdungsmeldung machen, wird ihnen gesagt, sie wollten den Vater nur schlecht machen – machen sie keine, werden sie beschuldigt, ihre Verantwortung als Elternteil nicht wahrgenommen zu haben. Wenn sie das Kind während der Papa-Zeit anrufen, sagt man ihnen, sie könnten nicht loslassen, wären Helikopter-Mütter und bindungsintolerant – rufen sie nicht an, sagt man ihnen, sie würden sich nicht um die Kinder kümmern und hätten augenscheinlich ausreichend Vertrauen in die Erziehungskompetenz des Vaters. Wenn sie den Vater wegen Gewalt anzeigen, wird ihnen gesagt, sie wollten sich nur einen Vorteil im Verfahren verschaffen – wenn sie es nicht tun, wird ihnen unterstellt, an ihren Vorwürfen wäre nichts dran, sonst hätten sie ja Anzeige erstattet.

Nach 450 Gesprächen in elf Monaten am FEM.A Telefon, 450 Fällen, die mir geschildert wurden, unzähligen Beschlüssen, Berichten der Familiengerichtshilfe und Gutachten, die ich gelesen habe, haben sich für mich folgende Leitgedanken der wirkenden Ideologie herauskristallisiert:

  • Väterbeteiligung um jeden Preis.
    Die Kinderbetreuung auf die Schultern beider Elternteile legen zu wollen, ist gesellschaftspolitisch ein löbliches Ansinnen. In der Praxis nimmt das insbesondere Väter in die Pflicht, denn Kinderbetreuung ist in Österreich immer noch Frauensache. Im Kontext von Pflegschaftsverfahren scheint es jedoch, als ob es einem Vater nicht gelingen könne, sich als Elternteil zu disqualifizieren, während man bei der Mutter das Haar in der Suppe sucht, um zu rechtfertigen, dass das Kind künftig mehr Zeit mit dem Vater und weniger mit der Mutter verbringen soll. Über Gewalt,

    Alkohol- und Drogenmissbrauch oder andere Kindeswohl schädigende Verhaltensweisen wird dabei beim Vater großzügig hinweggesehen. Die Standardantwort auf entsprechende Hinweise der Mütter lautet: „Das war in der Vergangenheit, wir blicken in die Zukunft.“ Mütter stehen unter Generalverdacht, Vorwürfe nur deshalb zu erheben, um sich einen Vorteil im Verfahren zu verschaffen.
  • Mütter entfremden und manipulieren, Väter sind Opfer der Entfremdung.
    Wenn ein Kind artikuliert, dass es nicht in dem Ausmaß beim Vater sein will, wie dieser sich das wünscht, oder wenn es Übernachtungen oder gar den Kontakt zur Gänze verweigert, wird reflexartig die Mutter dafür verantwortlich gemacht. Sie wird beschuldigt, das Kind gegen den Vater zu manipulieren und somit zu entfremden. Niemand kommt auf die Idee, dass die Verweigerungshaltung des Kindes etwas mit einem Fehlverhalten des Vaters zu tun haben könnte, und geht ihr professionell auf den Grund. Die Diagnose der Entfremdung und Manipulation durch die Mutter wird – so überhaupt – mit Theorien begründet, deren Gültigkeit international längst in Frage gestellt oder sogar klar verneint wurde. Dabei wären Einzelfallaussagen ohne professionelle Exploration ohnehin gar nicht möglich. Und dennoch reicht in Pflegschaftsverfahren ein Triggerwort („Entfremdung“), um eine unsubstanziierte Diagnose („Manipulation der Mutter“) auszulösen. Anwälte wissen das und nutzen es.
  • (Hoch-)Strittigkeit ist beiderseitiges Verschulden.
    Das Pflegschaftsgericht und sein Helfersystem gehen bei den beiden Parteien von Vernunft geleiteten Menschen aus, die in einem Streit gefangen sind. Man müsse lediglich den Streit befrieden, um zu einer Lösung in der Sache zu kommen. Gewalt ist dabei Ausdruck der Hilflosigkeit einer Partei in Reaktion auf eine Aktion der anderen Partei im Laufe des Streits. Verschwindet der Streit, verschwindet auch die Gewalt. Menschen, die nicht von Vernunft geleitet werden, die gewalttätig sind, weil sie zum Beispiel ihre Emotionen nicht regulieren können, oder die andere Verhaltenspathologien zeigen, kommen in dieser Überlegung nicht vor. Insbesondere kommen darin Väter nicht vor, die streiten wollen, die sich am Streit nähren, weil es das letzte Mittel ist, das ihnen Kontrolle über die Ex-Partnerin gibt.
  • Kindern wird kein eigener Wille zugestanden.
    Lt. § 105 AußStrG sind Kinder in Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren zwingend persönlich zu hören. Ab einem Alter von 10 Jahren muss dies durch die Richterin / den Richter erfolgen, bis dahin kann es auch durch eine geeignete dritte Person (z.B. Kinderbeistand, Sachverständige/r, Familiengerichtshilfe, Kinder- und Jugendhilfe) erfolgen. Das Gesetz formuliert Ausnahmen von diesem Grundsatz, die leider viel zu leichtfertig gezogen werden. Somit kehrt sich etwas grundsätzlich Positives in sein Gegenteil um, weil Kinder mit dem Argument einer zu hohen Belastung durch die Befragung entweder gar nicht befragt werden, oder dem geäußerten Willen wegen der angeblichen Manipulation der Mutter keine Bedeutung beigemessen wird. Statt eines qualitativen Blicks auf den Kindeswillen hat man viel zu oft den Eindruck, dass die Ausnahmen des § 105 AußStrG bemüht werden, um keine Argumente gegen eine Ausweitung der Vaterkontakte in den Akt zu bringen.

Die Rolle der Institutionen.

In Österreich sind das neben dem Familiengericht insbesondere die Familiengerichtshilfe, die Kinder- und Jugendhilfe sowie Sachverständige, die in Pflegschaftsverfahren eine starke Rolle spielen. Aber auch Kinderbeistände und Besuchsbegleiter*innen mischen mitunter kräftig mit. Sie alle stützen in der Regel oben dargestellte Ideologie. Das ist zum Teil wohl auch systemisch begründbar:

  • Die Familiengerichtshilfe kann ausschließlich auf Auftrag des Gerichts tätig werden, die beauftragende Richterin / der beauftragende Richter entscheidet auch über einen eventuellen Ablehnungsantrag, die Oberlandesgerichte fungieren als innere Revisionsstellen.
  • Für Kinderbeistände gilt dasselbe, wobei Kinderbeistände stundenweise bezahlt werden, also mehr verdienen, wenn sie häufiger beauftragt werden.
  • Amtswegige Kindesabnahmen der Kinder- und Jugendhilfen müssen innerhalb von 14 Tagen durch einen gerichtlichen Beschluss bestätigt werden, hier ist ein guter Kontakt zur zuständigen Richterin / zum zuständigen Richter von Vorteil.
  • Für einige Sachverständige stellen Gutachten die einzige Einkommensquelle dar, und oft genug kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit den Empfehlungen die Erwartungen einer Richterin / eines Richters bedient werden sollten, um Folgeaufträge zu sichern. In Bayern hat eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München 2014 ans Tageslicht gebracht, dass 45% der psychologischen Sachverständigen erklärten, ein Gericht habe ihnen schon ein Mal oder häufig signalisiert, welche Tendenz es bei einem Gutachten erwarte. Sachverständige in Österreich berichten uns ähnliches.

Im Allgemeinen ergibt sich folgender Eindruck: Je weniger eine Organisation unmittelbar in ein gerichtliches Pflegschaftsverfahren eingebunden ist, desto eher ist gewährleistet, dass das Kindeswohl im

Mittelpunkt steht. Im Einzelfall hängt es stark von der konkreten Person ab, was wiederum untrügerischer Hinweis auf einen Systemmangel ist.

Was es braucht.

Österreichs Kindschaftsrecht ist nicht so schlecht, wie oben geschilderte Praxis vermuten lassen könnte. Verbesserungen ebendieser Praxis wird man daher auch nicht mit neuen Gesetzen erreichen, sondern vielmehr damit, an allen Stellen sicherzustellen, dass das Kindeswohl oberste Prämisse bleibt und nicht zugunsten anderer Interessen in den Hintergrund tritt. Mit einem professionellen Qualitätsmanagementsystem, das den gesamten Prozess abdeckt, und Transparenz an allen Stellen könnte man diesem Ziel einen großen Schritt näher rücken.

Denn über das Wohl und die Zukunft eines Kindes zu entscheiden, ist eine enorm hohe Verantwortung. Entsprechend hoch müssen die Qualitätsansprüche sein.

Was es nicht braucht.

Jedenfalls keine gemeinsame Obsorge ex lege auch für unverheiratete Paare sowie keine gesetzlich festgelegte Mindestbetreuungszeit für beide Elternteile, was aktuell im Justizministerium angedacht wird. Zwang geht zu Lasten der Kinder und ist nicht geeignet, aus einer dysfunktionalen Familienstruktur eine funktionale zu machen.

      Evaluierung des KindNamRÄG 2013, Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren, Endbericht, Österreichisches Institut für Familienforschung, Wien, März 2017; Familiengerichtsbarkeit, Bericht des Rechnungshofs, Reihe BUND 2017/24, Wien, Mai 2017; diverse parlamentarische Anfragen.

Details zum Buch >>

Buch bestellen >>

CHRISTINA MUNDLOS

MÜTTER KLAGEN AN

Institutionelle Gewalt gegen Frauen und Kinder im Familiengericht

270 Seiten, 14,5 × 20,5 cm, Klappenbroschur
ISBN 978-3-96317-332-5 (Print)
22,00 € (Print)

© Büchner-Verlag, Marburg, erscheint am 22. Februar 2023.

0 Kommentare

Pin It on Pinterest

Share This