Patriachale Narrative in familiengerichtlichen Verfahren

Rede von Sybille Moeller, Vorsitzende, Mütterinitiative für Alleinerziehende (die MIAs) anlässlich der Veranstaltung “Femizide und psychische Gewalt besonders gegen Mütter in Österreich” am 1. Dezember 2021 in Wien

Patriarchale Narrative erleben Betroffene in familiengerichtlichen Verfahren als eine zunehmende Gefährdung von Kindern und Müttern. Aufgrund dieser Entwicklungen entstand im Herbst 2017 die MIA – Mütterinitiative für Alleinerziehende aus der digitalen Vernetzung getrennter Mütter, die von andauernden Familiengerichtsverfahren betroffen sind. Diese Fälle haben sehr häufig einen Gewalthintergrund. Der Verein selbst wurde im Jahre 2018 gegründet, seinem Netzwerk  gehören rund 2.500 betroffene Mütter an.  Seit Januar 2020 ist MIA Mitglied im Bündnis Istanbul Konvention (BIK), ein Zusammenschluss von 20 Organisationen und Expert:innen aus dem Bereich Gewalt gegen Frauen. Das BIK verfolgt das Ziel, als Teil der Zivilgesellschaft die Umsetzung der Istanbul Konvention in Deutschland zu begleiten und voranzutreiben. MIA geht es dabei vor allem um den Artikel 31, den Frau Mag. Aziz gerade nannte.

Zum Gewalthintergrund: Auf Partnerschaftsgewalt folgt häufig Nachtrennungsgewalt. Neben dem Umgangsrecht des Vaters mit den Kindern, das weiterhin Zugriff auf die ehemalige Partnerin sichert und häufig den Gewaltschutz aushebelt, wird die vorgefallene und weiterhin ausgeübte Gewalt von Institutionen nicht ernst (genug) genommen. Stattdessen erleben gewaltbetroffene Frauen regelmäßig durch Familiengerichte und Verfahrensbeteiligte Victim Blaming und Täter-Opfer-Umkehr. Das Druckmittel ist dabei der angedrohte Verlust der Kinder. Die Dynamiken an Familiengerichten werden von Betroffenen als institutionelle Gewalt erlebt: Sie ermöglichen oft nicht nur weitere Gewaltausübung durch Täter, sondern Institutionen fügen Frauen und ihren Kindern zusätzliche Gewalt zu.

Institutionelle Gewalt gegen Mütter

Um dieses Problem sichtbar zu machen, hat MIA in 2020 zum ersten Mal die White Lily Revolution by MIA ins Leben gerufen. Die Aktion, die jährlich am Tag gegen Gewalt an Frauen (25.11.) startet, soll Betroffenen einen Raum geben, gehört zu werden und die institutionelle Gewalt sichtbar machen. Mütter, die institutionelle Gewalt erlebt haben, legen an diesem Tag weiße Lilien auf die Stufen der Amtsgerichte, Oberlandesgerichte oder Jugendämter nieder, veröffentlichen die Fotos  davon zusammen mit ihren Berichten unter #whitelilyrev in Social Media.

Auf der Webseite der Aktion ist nachzulesen, unter welchen Drohungen Mütter teilweise zu leiden haben:  „Wenn Sie dem Wechselmodell nicht zustimmen, dann bekommt der Vater das Kind.“ Oder: „Wenn Sie mit dem Vater (trotz Gewalthintergrund) nicht kooperieren, dann sorge ich dafür, dass das Kind in ein Heim kommt.“ Diese und viele ähnliche Aussagen von Familienrichter:innen , Jugendamtsmitarbeiter:innen usw. berichteten uns betroffene Mütter.

Gewalt spielt keine Rolle

Laut einer Studie von Anja Eichhorn (Alice-Salomon-Fachschule für Sozialwesen Berlin) wird in der Praxis häusliche Gewalt weder als Menschrechtsverletzung gegenüber Frauen noch die damit verbundene Verantwortung staatlicher Akteure überhaupt wahrgenommen. Das Menschenrecht auf ein gewaltfreies Leben tritt oft hinter dem Umgangsrecht zurück. Mögliche Erklärungen für die Ursachen dieser Dynamiken geben Ausbildungsmaterialen der im Familiengericht beteiligten Akteure. Diese siind online zu finden und gestatten einen Blick auf Inhalte, die in Aus – und Fortbildungen von Familienrichtern, Jugendamtsmitarbeiter:innen und Gutachter:innen vermittelt wurden.  Die Folien des Sprechers vom Verband für lösungsorientierte Begutachtung beispielsweise zeigen neben patriarchalen Narrativen gravierende fachliche Mängel: Konflikte werden unter Vernachlässigung des fünften kommunikationstheoretischen Axioms generalisierend als symmetrisch gedacht. Der Konflikt wird als sich gegenseitiges Aufschaukeln der Konfliktparteien interpretiert. So entstehen laut Prof. Jopt, dem Autor der Folien, zwei subjektive Wahrheiten: Beide Elternteile fühlten sich als (Gewalt-)Opfer, beide sähen den jeweils anderen Elternteil als Täter. Der Psychologe Jopt beruft sich dabei auf die aus dem systemischen Ansatz stammenden Konflikttheorien von Glasl und Watzlawick sowie den kommunikationstheoretischen Begriff „Interpunktion“ und statuiert, Trennungsleid und Gewalt seien immer geschlechtsneutral. Dass zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe oft zwischen Symmetrie und Komplementarität wechseln, dass asymmetrische Machtverhältnisse durch verschiedene Rollen innerhalb einer Familie, durch institutionelle oder spezifische soziale Kontexte vorgegeben sein können, wird ausgeblendet. Vor diesem einseitig auf Interpunktion fixierten fachlichen Hintergrund wird an Gerichten oder bei Begutachtungen eine Gewaltsituation oft fälschlicherweise als gar nicht existent oder als psychologische Fehlverarbeitung der Trennung statt als echte Gewaltsituation interpretiert – Den Opfern wird nicht geglaubt.

Auf den Ausbildungsfolien behauptet Jopt außerdem, dass der betreuende Elternteil, in der Regel die Mutter, die Kinder zwangsläufig instrumentalisiere. Der Vater hingegen agiere nicht, er könne nur reagieren.  Wenn das Kind mehr bei der Mutter wohne als beim Vater, dann übe sie durch die Betreuung des Kindes automatisch Kontrolle über den Vater aus.

Jopt konstatiert, die Macht läge immer bei demjenigen Elternteil, bei dem die Kinder wohnen. Dadurch käme er bzw. sie in den Genuss eines „psychologischen Standortvorteils“. Jopt unterstellt, dass dieser aller Wahrscheinlichkeit nach den Standortvorteil ausnutzen, seine Verletzungen auf das Kind übertragen und es dadurch dem Besuchselternteil „entfremden“ werde. Das Ergebnis sei ein „Monsterbild“ vom Besuchselternteil, das ein Kind fast zwangsläufig entwickeln würde, wenn es nicht halbe-halbe im Wechselmodell lebe. Das Kind meide folglich den Besuchselternteil, in der Regel den Vater, und die Mutter könne sich dann auf den Kindeswillen berufen, um Umgänge zu verhindern.

Jopt greift auf seinen Folien klar auf ein antifeministisches Opfernarrativ zurück: Den Mythos vom durch die feministische, matriarchale Gesellschaft unterdrückten Mann.

Das Netzwerk, dem Jopt angehört, ist u.a. mit einer Forschungseinrichtung an der Universität Tübingen verbunden. Das sogenannte „Kimiss-Institut“ erhebt Daten darüber, wie Väter bzw. Besuchselternteile den Betreuungselternteil und dessen Fehler beurteilen und skaliert diese Aussagen. Diese werden nicht gegengeprüft, es gibt keine Kontrollgruppen oder sonst irgendeinen wissenschaftlichen Standard, um die Aussagen der Besuchselternteile wissenschaftlich zu validieren. Aus den ungeprüften, subjektiven Angaben der Besuchselternteile werden schließlich Aussagen über die sog. „Eltern-Kind-Entfremdung“ abgeleitet, deren Verursachung dem betreuenden Elternteil zugeschoben wird. In dieser wissenschaftlich fragwürdigen Studie existieren keinerlei Fragen bezüglich möglicher Verhaltensfehler des Besuchselternteils oder Fragen bezüglich möglicher Gewalt gegen die Mutter oder das Kind. Die Datenerhebung erfolgte über Väterrechtsnetzwerke im Internet. Ob die Angaben der Besuchselternteile stimmen, ist nicht verifizierbar.

Junk Science: „Eltern-Kind-Entfremdung“

Zum pseudowissenschaftlichen Narrativ der „elterlichen Entfremdung“ werden von Akteuren dieser Lobby große Kampagnen und Informationsmaterialen produziert: Jürgen Rudolph, Ex-Familienrichter und Akteur aus dem Netzwerk von Jopt, beriet beispielsweise die Drehbuchautorin des SWR-Films „Weil Du mir gehörst“. Dass eine Mutter ihr Kind, wie im Film dargestellt, negativ beeinflusst, kann durchaus Teil trennungsbedingter Dynamiken sein. Allerdings ist eine solch vorsätzliche („induzierte“) Entfremdung gemäß Studien selten und zudem vor Familiengerichten kaum beweisbar. Beziehungsdynamiken unterliegen meist einer großen Komplexität, denen das schwarz-weiße Entfremdungs-Narrativ in keiner Weise gerecht wird. Der Komplexität solcher Falllagen sind allerdings die wenigsten Akteur:innen in Familiengerichtsverfahren gewachsen, weshalb gerne auf einfache Erklärungen und Schuldzuschreibungen wie „Bindungsintoleranz“ oder andere synonyme Begriffe für „entfremdendes Verhalten“ eines Elternteils zurückgegriffen wird. Der Vorwurf der „Entfremdung“ kann in Gerichten durch Hörensagen von Prozessbeteiligten übernommen werden und richtet sich allermeist gegen Mütter – und ohne, dass überhaupt einmal nachgeprüft wird, ob der Vorwurf überhaupt stimmt. Statistiken über das Vorliegen der „Eltern-Kind-Entfremdung“ werden in Väterrechtsnetzwerken erfunden und verbreitet, statistische Erhebungen über Kontaktabbrüche teils gezielt verzerrt dargestellt. So kursiert beispielsweise die Behauptung, dass, weil 85% aller Kinder in Deutschland überwiegend bei der Mutter leben, die Ursache dafür immer bei den Müttern läge, weil diese den Vätern die Kinder vorenthielten. Mitarbeiter:innen von Jugendämtern wurden gezielt mit dem Film „Weil du mir gehörst“ in großen Kampagnen fortgebildet. Die negative, misogyne Sichtweise auf Mütter, die auf diese Weise reproduziert und forciert wird, kann Müttern und damit Kindern vor Gerichten extrem schaden.  

Um der „Entfremdung“ des Kindes vom Vater entgegenzuwirken, wird die Forderung erhoben, die Macht, die die Mutter angeblich über das Kind hat, durch ausgeweitete Umgänge mit dem Vater zu verkleinern und dadurch der (gefühlten) Ungerechtigkeit gegenüber dem Vater entgegenzuwirken.

Ein weiteres, häufig anzutreffendes Narrativ ist die Behauptung, dass sexueller Missbrauch von Frauen meist erfunden werde, um sich Vorteile im familiengerichtlichen Verfahren zu verschaffen. Die tatsächliche Falschbeschuldigungsrate sei wesentlich höher, als gemeinhin bekannt.  Laut Bundeskriminalamt gelangt allerdings nur jeder 15. bis 20. Missbrauch überhaupt zur Anzeige – auch hier werden Statistiken nachweisbar verzerrt und fehlinterpretiert.

Betroffenen der MIA begegnet bisweilen auch das Narrativ, dass eine „richtige Familie“ nur aus genetischem Vater, aus biologischer Mutter und Kind(ern) bestehen dürfe. Stieffamilien oder Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern werden manchmal nicht als richtige Familien wahrgenommen, Alleinerziehende und deren Kinder gelten oft per se als defizitär.

Die heilige Familie und ihr „natürliches Recht“

Der Maskulist und Väterrechtsaktivist Franzjörg Krieg, dessen Ehefrau Angela Hoffmeyer als Generalsekretärin des „International Council on Shared Parenting“ das Lobbying für das Wechselmodell international koordinierte, hat das ultrarechtskonservative Familienbild der Stiftung Novae-Terrae (Italien) für den Verein Väteraufbruch für Kinder (VafK) übernommen. Demnach sei Elternschaft die Verantwortungsübernahme der genetisch-biologischen Eltern für ihr Kind, und Elternverantwortung das “natürliche Recht der Eltern“ auf gemeinsame Verantwortung. Der Begriff des „natürlichen Rechts“ wird hier von Krieg bzw. dem VafK  in einer doppelten Bedeutungs-Dimension verwendet: Er zielt nicht nur auf die Formulierung in Art. 6 (2) des deutschen Grundgesetzes ab, sondern zugleich auf das fundamentalchristliche Bild der „natürlichen Ordnung“, die  ausschließlich als patriarchale Kleinfamilie aus (genetischem) Vater, Mutter, Kind definiert wird.  Das ideologische Ziel von Novae Terrae unter Leitung von Luca Volonte ist die „Wiederherstellung der genetischen Familie“. Das wurde in die Programmatik des Väteraufbruchs aufgenommen.

Das internationale Netzwerk, zu dem die Stiftung Novae Terrae zählt, umfasst u.a. das Dignitatas Humanae Institute (Vorsitzender: Luca Volonte) und das Ioana Institute (Irland), ist Partner von ECLJ, Hatze Oir, The Heritage Foundation, Fondation Jerome Lejeune, der Beobachtungsstelle für Intoleranz und Diskriminierung von Christen und arbeitet mit CitizenGo zusammen, um Petitionen und das Fundraising deds Netzwerks zu organisieren.

Unter dem Begriff „Elternschaft“ wird aufgrund dieses ideologischen Hintergrundes die Verantwortungsübernahme der leiblichen Eltern als Grundlage der genetischen Identität des Kindes verstanden:

„Unter Elternverantwortung verstehen wir das grundsätzlich unantastbare natürliche Recht der Eltern auf die Übernahme von gemeinschaftlicher Verantwortung für das Kind (für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes) und die rechtliche Vertretung nach außen.“

Aus dieser Definition von Elternschaft und Familie wird die Definition von „Familienleben“ als „gelebte Zeit der genetischen Eltern mit ihrem Kind“ abgeleitet. 

Das bedeutet: Eltern hätten das Recht auf gleichmäßig verteilte Zeit mit dem Kind für die Ausgestaltung der Beziehung. 

Das führt zwangsläufig zum paritätischen Wechselmodell per Staatsvorgabe wie auch zu der Forderung, dass Umzüge selbst im Inland strafrechtlich geächtet werden müssten, so dass Trennungseltern generell nicht mehr wegziehen dürfen; dass „Entfremdung“ bzw. „Umgangsvereitelung“  strafbar sein und dass die Doppelresidenz als „bestes Betreuungsmodell“  nach der Trennung implementiert werden müsse.  

Die Narrative, die Krieg im „Väterexpress“, einer Publikation des VafK, verwendet, entsprechen der Kommunikationsstrategie der fundamentalchristlichen Agenda Europe, bestehende (Menschen-)Rechte inhaltlich im ultrakonservativen Sinne umzudeuten, wie aus der Studie von Neil Datta ersichtlich wird:

https://www.profamilia.de/fileadmin/publikationen/Fachpublikationen/Agenda_Europe.pdf Kap. 5 ab S. 21

Wechselmodell-Studien und was sie nicht aussagen

Der Kommunikationsstrategie fundamentalchristlicher Akteure folgend wird dann behauptet, dass das Wechselmodell die beste und gesündeste Betreuungsform für Kinder seii, völlig unabhängig von sämtlichen anderen Variablen. Das wurde seit 2013 mit plötzlich zahlreich publizierten „Wechselmodell-Studien“ versucht zu untermauern. Die Behauptung, dass das Kindeswohl kausal von der Wohnform abhänge und das Wechselmodell das Beste für Kinder sei, konnte bisher keine einzige Studie belegen.

In unserer Initiative gibt es Ein-Eltern- und Patchwork-Familien, in denen ein Kind im Wechselmodell lebt, dessen Halbgeschwisterkind jedoch immer fest bei der Mutter/der Familie wohnt.  Es gibt Konstellationen, in denen schwere Partnerschaftsgewalt vorgefallen ist. Eine gemeinsame Ebene miteinander ist dann unmöglich. Dennoch werden gewaltbetroffene Mütter von Gerichten und Jugendämtern unter Drohungen wie, das Sorgerecht zu verlieren, zur Kooperation mit dem Täter gezwungen. Auch in Gewaltfällen, auch bei Hochkonflikt, so die Behauptung, sei das Wechselmodell das „gesündeste“ Betreuungsmodell. Für diese Behauptungen gibt es keinerlei seriöse, wissenschaftliche Belege.

Prof. Maurice Berger, Kinderpsychiater, ehem. außerordentlicher Professor für Kinderpsychopathologie an der Universität Lyon 2, ehem. Leiter der Abteilung für Kinderpsychiatrie an der CHU von Saint Etienne und Mitglied mehrerer ministerieller Kommissionen zum Thema Kinderschutz in Frankreich, hat sich mit den Wechselmodell-Studien befasst, als diese auf EU-Ebene diskutiert wurden.  Er versuchte, mit der Europäischen Kommission zu kommunizieren, weil er falsch zitiert wurde und die wichtige, methodisch sehr strenge Studie von McIntosh über die Risiken des Wechselmodells in konflikthaften Trennungsfamilien in der Lobbyarbeit auf Europaebene keine Erwähnung fand (mehr Information darüber: https://docplayer.org/119680438-Impressum-herausgeberin-kommunikationszentrum-fuer-frauen-zur-arbeits-und-lebenssituation-e-v-baaderstr-30-muenchen-tel.html). Berger schreibt, dass er auf seine Eingabe keine Antwort erhielt.

Bei der Sichtung der Wechselmodellstudien, die durch die Lobbyakteure im Umlauf waren oder von einzelnen Familienrichtern in ihren Beschlüssen zitiert wurden, sind uns z.T. massive Mängel aufgefallen.

Die Narrative über die angeblichen Befunde der seit 2013 erschienenen Wechselmodell-Studien wurden durch PR über Medien und auf Fachveranstaltungen weit verbreitet. Auch dabei fielen immer wieder Fehler auf. So erwähnte in einem Interview mit dem DLF Prof. Hildegund Sünderhauf eine „Cortisolstudie“, die belege, dass es Kindern im Wechselmodell besser gehe. Auf Nachfrage bei dem benannten Studienautor Jani Turnunen (2015) von der Stockholm University gab dieser an, dass er nie jemals eine Cortisolstudie durchgeführt hätte. Er verwies auf eine andere Studie von Fachkolleg:innen (Fransson et al.), die jedoch nur eine sehr kleine Kohorte betrachtet hatte. Ein Vergleich zu Cortisolwerten von Residenzmodellkindern hat nie stattgefunden,  da es gar keine Vergleichsgruppe (Kinder im Residenzmodell) gab.

In Deutschland gibt es eine teils sehr emotional geführte Debatte darüber, was die verfügbaren Studien über die psychischen Folgen des Wechselmodells tatsächlich aussagen. Ergebnis der wissenschaftlichen Debatte ist, dass die Daten der Studien, die für das Wechselmodell sprechen, überwiegend von einer positiv selbstselektierten Gruppe stammen. Diejenigen Familien, die sich freiwillig für die Teilnahme an Befragungen melden, leben das Modell meist freiwillig, die Eltern haben kaum Konflikte miteinander und einen hohen sozioökonomischen Status.  Die Ergebnisse aus diesen Befragungen wurden jedoch dazu verwendet, um im Lobbying eine gesetzliche Vorschrift für das Wechselmodell zu rechtfertigen, die sich an Familien richtet, bei denen all diese Kriterien gar nicht zutreffen, sondern im Gegenteil sich aufgrund schwerer anhaltender Konflikte nicht einigen können.  Prof. Anja Steinbach stellt fest: „Diese positiv selbstselektierte Gruppe stand nun aber im Fokus der meisten existierenden Studien, auf deren Basis im Moment Aussagen verallgemeinert werden.“  (Steinbach 2020)

Leider gelangen bis heute falsche Narrative in Ausbildungcurriculae, z.B. auf Ausbildungsfolien für Verfahrensbeistände beim Weinsberger Forum. Dort wird behauptet, dass Kinder im Wechselmodell generell gesünder und zufriedener mit ihrer familiären Lebenssituation seien als Kinder im Residenzmodell.  

Erzwungenes Wechselmodell und seine Folgen in der Praxis

In unserem Verein gibt es viele Mütter, die vom gerichtlich angeordneten oder anderweitig erzwungenen Wechselmodell betroffen sind. Das Wechselmodell wirkt in den Familien dieser Mütter nicht als Entlastung, sondern aufgrund des Stresses und der oftmals sehr komplexen Konflikte als starke zusätzliche Belastung.

Das Narrativ, das Wechselmodell sei ein gleichstellungspolitisches Instrument, ist aufgrund der Erfahrungen Betroffener nicht haltbar. Das ideologische Ziel des Wechselmodells war ursprünglich nicht, Mütter zu entlasten, sondern Scheidungen bzw. Trennungen vom Mann zu erschweren. In Italien haben sich in den letzten Jahren viele Initiativen gebildet, die auf das falsche Narrativ aufmerksam machen.

Mütter, vor allem, wenn sie mehrere Kinder haben, erwirtschaften in der Regel nur einen Bruchteil des Lebenserwerbseinkommens, das Väter im Laufe des Lebens verdienen (Bertelsmann 2020). Das Wechselmodell hindert Mütter daran, einen besser bezahlten Job annehmen zu können, wenn sie dafür z.B. umziehen müssen oder die Arbeitszeiten nicht zu den Wechselzeiten der Kinder passen. Sie bleiben folglich oft in geringer bezahlten Stellen gefangen und rutschen später in die Altersarmut, da sie sowohl zeitlich als auch örtlich an den Vater und dessen Wohnort gekettet sind.

Gerichtlich festgelegte Umgangszeiten verhindern Flexibilität – auch beruflich. Das kann bedeuten, dass Mütter u.U. genau in der Zeit, die ihnen gerichtlich für die Betreuung ihres Kindes zugstanden wurde, arbeiten müssen, und dass das Kind genau dann beim Vater ist, wenn sie aufgrund bestimmter Bedingungen des Arbeitgebers nicht arbeiten können.  Das Wechselmodell bringt bei unflexiblen Arbeitszeiten weder der Mutter noch dem Kind Erleichterungen, sondern kann den Alltag enorm verkomplizieren.

Carearbeit und Mental Load bleiben auch im Wechselmodell überwiegend Frauensache.  Die Betreuung der Kinder wird im Haushalt des Vaters oft von anderen Frauen übernommen: von der Mutter des Vaters, der neuen Partnerin des Vaters, von Freundinnen des Vaters oder von Nannys.  Wenn der Vater vor der Trennung gewohnt war, der „Spaßpapa“ zu sein, setzt sich dies im Wechselmodell oft fort und erschwert die Erziehung für die Mutter in der Zeit, in der das Kind bei ihr ist.

Carearbeit und erzieherische Aufgaben sind im Wechselmodell äußerst zeitaufwendig, aufreibend, mit vielen Frustrationen und Spannungen verbunden. Häufig kommt es in Konstellationen mit großen Spannungen vor, dass ein Elternteil die Erziehung des anderen untergräbt und Kinder in der Folge die Eltern gegeneinander ausspielen.

Werden Stieffamilien gegründet, wenn bereits ein Wechselmodell mit einem Kind besteht, kann das Leben in der Stieffamilie sehr belastend und kompliziert werden. Der Alltag der Stieffamilie hat sich dann dem Wechselrhythmus komplett unterzuordnen, was ebenfalls zu großen Spannungen führen kann. Interessanterweise gibt es kaum wissenschaftliche Untersuchungen darüber, wie es Wechselmodell-Kindern geht, wenn z.B. ein Geschwisterkind dauerhaft an einem Ort wohnt und die anderen Geschwisterkinder pendeln müssen.

Der Forschungsstand über Gelingensbedingungen des Wechselmodells ist insgesamt mehr als rudimentär.

Internationales Netzwerk

2013 waren bei einer Lobbyveranstaltung im Europaparlament Akteure vertreten, die nicht nur versuchen, in ganz Europa eine Wechselmodellgesetzgebung voranzutreiben, sondern die auch der Anti-Gender-Bewegung angehören.

Zum Netzwerk des Väteraufbruchs gehören u.a.:

  • Ioannis Paparigopoulos:  Seine Schwester war in Athen in der Kommission, die das neue Wechselmodellgesetz für Griechenland ausgearbeitet hat.
  • Anton Pototschnig, Obmann der Plattform doppelresidenz.at.  Er war Projektpartner der Projektgruppe Doppelresidenz des Väteraufbruchs für Kinder (Deutschland) und auf mehreren Veranstaltungen des Väteraufbruchs anwesend.
  • Hans-Christian Prestien, ein ehemaliger Familienrichter aus Brandenburg, der zur Zeit in der Coronaleugner-Szene ganz aktiv ist und im Rahmen des „Netzwerks kritischer Richter und Staatsanwälte“ zum Kern der deutschen Coronaleugner – und Verschwörungstheoretikerpartei „Die Basis“ gehört.  
  • die Juristin Prof. Hildegund Sünderhauf
  • der ital. Senator Simone Pillon (Lega)
  • der Kinderarzt und PAS–Lobbyist Vittorio Vezzetti
  • Ned Holstein, Gründer und Chairman der National Parents Organisation aus den USA, ehemals „Fathers for Families“.

Das intensive Lobbying für das Wechselmodell begann in Deutschland 2012 mit der Gründung der „Projektgruppe Doppelresidenz“ des Väteraufbruchs für Kinder. 

Pototschnig nennt sich selbst Projektpartner der Projektgruppe Doppelresidenz des  Väteraufbruchs für Kinder, ist seit 2010 Mitglied der Arbeitsgruppe  „Obsorge und Besuch“ des österreichischen Bundesministeriums für Justiz und in der derzeitigen Arbeitsgruppe im österreichischen Justizministerium für das neue Kindschaftsrecht tätig, wie Frau Czak (FEMA) uns bestätigte.

Vittorio Vezetti gründete in Italien die Väterlobbyorganisation Colibri und verlegte den Sitz seiner Denkfabrik nach Brüssel, um schnelleren Zugriff auf europäische Institutionen zu bekommen. Der Politikberater von Colibri, der Lega-Politiker Simone Pillon, saß im Kuratorium der Stiftung Novae Terrae, quasi einem italienischen Zweig von CitizenGo.

Seine Aufgabe war es, die Verbindung des Netzwerks zu Parlamenten und zur Europapolitik herzustellen. Es bestehen Kontakte zu Brian Brown, dem Vorsitzenden des rechtspopulistischen Weltkongresses der Familien, einem großen Netz der religiösen Rechten, das weltweit agiert. Simone Pillon war im März 2019 der Cheforganisator des rechtspopulistischen World Congress of Families in Verona.

Durch dieses Netzwerk wurden ab 2013 die sogenannten „Wechselmodellstudien“ lobbyiert. Nach den Lobbytreffen der Akteure 2013 im Europaparlament koordinierte Vezzetti über seinen Verein Colibri die Sammlung von Wechselmodellstudien mit positivem Ergebnis und stellte die Verbindung zum Europarat her.

Das von ihm gesammelte Material gab er als Buch im Selbstverlag heraus und ließ es in einer Auflage von über 20.000 Exemplaren drucken.  Diese nahm er im Oktober 2013 nach Straßburg zur EU mit, wo er seine Wechselmodell-Vorstellung u.a. mit Prof. Sünderhauf, einer deutschen Juristin, Simone Pillon sowie mit Unterstützung der stv. Präsidentin des Europaparlaments, Christdemokratin und ehem. Vorsitzenden der Jugendorganisation der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano, Roberta Angelilli, vorstellte.      

Der nächste Schritt war die Resolution 2079 (2015) des Europarates im Dezember 2015.   Hier konnte Vittorio Vezetti laut seiner Internetseite Françoise Hetto-Gaasch, damalige Gleichstellungsministerin in Luxemburg, als Initiatorin gewinnen. Sie brachte daraufhin den Antrag für die Resolution zur Gleichstellung der Geschlechter/Väter in der Betreuung der Kinder ein. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat am 02.10.2015 die Resolution mit 48 Stimmen verabschiedet. Den Mitgliedsstaaten wird darin empfohlen, die Doppelresidenz als bevorzugtes anzunehmendes Modell gesetzlich zu verankern.

In Italien versuchten die rechtspopulistische Partei Lega und andere konservative Kräfte, Ehescheidungen maximal zu erschweren.  Simone Pillon (Lega) war u.a. mit Vittorio Vezzetti Autor des Gesetzesentwurfs DDL 735 der Lega im Jahre 2018 unter Minister Salvini, der heftige Proteste von Frauenrechtlerinnen in Italien provozierte.  

Pillon selbst arbeitet als auf Familienmediation spezialisierter Anwalt.  Das Ziel des Gesetzes, dessen Entwurf sich letztlich nicht durchsetzen konnte, war, Scheidungen für Frauen so schwer wie möglich machen, um die genetische Familie zu stärken.  Pillon: „Das einzige, was funktioniert, ist ein Mann und eine Frau, die sich lieben“.    

Inhalt des Gesetzentwurfs war eine verpflichtende, kostenintensive Familienberatung bei bezahlten Coachs, auch wenn Gewalt vorgefallen war.  In der Beratung sollte ein „Erziehungsplan“ erstellt werden. Der Entwurf enthielt die Forderung, dass die Zeit zwischen den Eltern genau aufgeteilt werden musste – mindestens 10 Tage sollten jedem Elternteil pro Monat zugestanden werden. Mit dem Entwurf verbunden war neben dem Mediationszwang auch eine Unterhaltsrechtsreform, durch die der Kindesunterhalt weitgehend entfallen sollte.

Die „Europäische Stabilitätsinitiative“ hat einige Geldflüsse des Netzwerks rekonstruieren können. Über den italienischen Abgeordnetem Luca Volonte, laut Neil Datta (EFP) einer der Hauptakteure innerhalb der Agenda Europe, flossen aus Aserbaidschan Gelder an Parlamentarier des Europarates. Es konnte nachgewiesen werden, dass im Zuge der Korruptionsaffäre im Europarat von Dezember 2012 bis Dezember 2014 Geld in Höhe von 2,390,000 Euro an die Stiftung Novae Terrae von Luca Volunte überwiesen wurden, um eine gegen die Interessen der aserbaidschanischen Regierung gerichtete Resolution im Europarat zu verhindern. 

Zusammenfassung

„Die Stiftung Novae Terrae verpflichtet sich, die nach dem Naturgesetz konzipierten Menschenrechte zu verteidigen und die Ausweitung der im Wesentlichen unmenschlichen „unersättlichen Rechte“ (= Recht auf Abtreibung, Recht auf Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare) zu kontrollieren.“

Patriarchale Forderungen, die sich aus den Narrativen ergeben:

  • Mitbestimmungsrecht des Vaters bei Abtreibungen, falls dieses notwendig sein sollte;
  • Automatisches Sorgerecht für Väter ab Geburt, pränatale Vaterschaftstests;  
  • Erschwerung von Scheidungen;
  • möglichst 50/50 – Aufteilung der Kinder nach Trennung und Scheidung;
  • Aufweichen des Gewaltschutzes bis hin zur Legalisierung innerfamiliären sexuellen Kindesmissbrauchs. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Vezzetti  beim ersten Treffen im Europaparlament 2013 seinen Vortrag u.a. über Robert Bauserman hielt. Bauserman  war einer der ersten Autoren, die eine Metastudie (2002) zur Kindeswohldienlichkeit des Wechselmodells publizierten. Die Studie enthält Behauptungen, dass Kinder im Wechselmodell weniger Verhaltensauffälligkeiten und bessere Schulleistungen zeigen als Kinder im Residenzmodell, dass das Alter der Kinder nicht signifikant sei, dass eine mittlere Umgangsfrequenz die meisten Konflikte erzeuge, dass entweder gar kein Umgang oder das Wechselmodell die besten Lösungen für Kinder hochstrittiger Eltern seien. Bauserman hatte noch vier Jahre zuvor über sexuellen Missbrauch von Kindern publiziert und infrage gestellt, ob „freiwillige“ sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern überhaupt schädlich seien.
  • Aufweichung des Verfahrensrechts und der Rollen der an familienrechtlichen Verfahren beteiligten Professionen;
  • Eindringen von Elementen der Mediation in familiengerichtliche Verfahren, auch bei Gewalt (Aushöhlen von Rechtsstaatlichkeit)
  • Zwang zur Mediation unter Androhung von Verlust des Sorgerechts, sollte man sich nicht „einigen“ können;
  • Stärkung des „systemischen“ und „lösungsorientierten“ Ansatzes. Das Ziel ist, darüber die („heilige“) genetische Familie als „System“ nach Trennung  zu erhalten, selbst wenn (schwere) Gewalt vorgefallen ist;      
  • Schwächung der rechtlichen Lage der Stieffamilie;
  • Inkludieren von „Entfremdung“ (Parental Alienation) im Strafrecht und in Gesetzen über häusliche Gewalt. 

Die patriarchalen Forderungen und ihre Narrative, die den Betroffenen im Gerichtssaal begegnen, sind als antifeministischer Backlash allenthalben spürbar:

Das Wechselmodell, die pseudowissenschaftlichen Vorwürfe „PAS“/“Entfremdung“ oder „Symbiotische Mutter-Kind-Beziehung“, der (nahezu immer unbewiesene) Vorwurf von „Bindungsintoleranz“ lässt sich schwer skalieren, wird aber ständig verwendet.  Der Einigungszwang im familiengerichtlichen Verfahren bedeutet in Gewaltfällen die Aushebelung des Gewaltschutzes und der Istanbul-Konvention durch das Kindschaftsrecht.

Wechselmodell und „Entfremdungs“-Vorwurf  sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Diese führen regelmäßig dazu, dass auch der Kinderschutz in familien-gerichtlichen Verfahren ausgehebelt wird und das Kindeswohl insgesamt immer weniger Beachtung findet.

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