Scheinerinnerungen
Das Konzept der „Schein- oder Pseudoerinnerungen“ gewinnt in den letzten Jahren immer mehr an Popularität und beginnt zunehmend auch in Gerichtsverfahren eine Rolle zu spielen. Man bezeichnet damit Erinnerungen, die nicht den realen Ereignissen entsprechen, sondern im Nachhinein von einer Person „erfunden“ wurden. Dabei können sich tatsächliche Geschehnisse mit phantasierten Inhalten vermischen.
„Scheinerinnerungen“ sind genau wie das „Parental Alienation Syndrome“ (PAS) und die „Bindungsintoleranz“ weniger Thema der klinischen Psychologie als vielmehr der Rechtspsychologie, wo sie – ausgehend von den USA – als Konzept Eingang in Gerichtsverfahren gefunden haben. Genau wie das PAS wurde es kreiert, um die Anschuldigungen von sexueller Gewalt an Kindern zu entkräften. Der Begriff geht ursprünglich zurück auf den US-Mathematiker Peter Freyd und seiner Frau Pamela. Eine seiner beiden Töchter, die spätere Psychologie-Professorin Jennifer Freyd beschuldigte ihn im Erwachsenenalter, sie als Kind missbraucht zu haben. Um die Vorwürfe abzuwehren und zu entkräften, gründeten Freyd und seine Frau die erste „False Memory Syndrome Foundation“ mit Sitz in Philadelphia, die bis 2019 existierte und internationale Ableger hat.
Das Konzept der „Scheinerinnerungen“ kommt seither immer wieder in Gerichtsfällen zum Einsatz, wenn Vorwürfe einer Seite nicht eindeutig bewiesen werden können., Zumeist handelt es dabei um Missbrauch und sexualisierte oder häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder. Je länger die Ereignisse zurück liegen, desto eher sind Gutachter*innen geneigt, die Verwertbarkeit von Erinnerungen anzuzweifeln. Vorwürfe, die erst im Laufe eines Verfahrens geäußert werden, können außerdem mit der Begründung angezweifelt werden, dass man sich doch von Anfang an die Geschehnisse erinnern hätte müssen.
In Fachkreisen gibt es seit einiger Zeit eine heftige Debatte, was die Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit von „Scheinerinnerungen“ betrifft. In Deutschland und der Schweiz hat sich mittlerweile eine Gruppe von hauptsächlich Rechtspsycholog*innen formiert, die das Konzept in besonderer Form vorantreiben möchte. Sie unterstellen dabei sogar ihren Therapeutenkolleg*innen, „Scheinerinnerungen“ bei ihren Klient*innen zu induzieren; und sie animieren Richter*innen dazu, im Fall von Gewalt besonders auf die Möglichkeit von „Scheinerinnerungen“ zu achten. Für echte Gewaltopfer führt dies im schlimmsten Fall zu einer Re-traumatisierung, wenn ihnen von oberster Stelle unterstellt wird, sich vergangene Erlebnisse nur einzubilden.
„Scheinerinnerungs“-Befürworter*innen argumentieren, dass echte traumatische Erinnerungen nicht vergessen werden könnten, sondern sich konstant aufdrängen würden. Ein Erinnern zu einem späteren Zeitpunkt wird von ihnen als unmöglich abgetan. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen wissenschaftlichen Mythos. Traumatisches Erinnern führt, wie von vielen Fachleuten bestätigt, eben genau zu keinem durchgängigen Erinnern. Es ist keine Seltenheit, dass Menschen mit Gewalterfahrung diese bis ins junge Erwachsenenalter nicht erinnern können. Man spricht dann auch von Dissoziation, einem Schutzmechanismus des Gehirns, der für eine Abspaltung der traumatischen Inhalte steht.
Ursache dafür ist die Situation des Gehirns in dem Moment, in dem das Trauma entsteht. Durch den überwältigenden Stress können Erlebnisse nicht wie sonst integriert abgespeichert werden. Die starken sinnlichen Eindrücke werden quasi verstreut über das Gehirn abgelegt. Der niederländische Psychiater Bessel van der Kolk beschreibt dies so: „Der Ausfall des Thalamus erklärt, warum Traumata primär nicht als Geschichte erinnert werden, als Erzählung mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende, sondern als isolierte sensorische Eindrücke: in Form von Bildern, Geräuschen, physischen Empfindungen, die mit starken Emotionen verbunden sind, meist solchen des Schreckens und der Hilflosigkeit.“ So erklärt sich auch, dass in Trigger-Situationen, z.B. wenn ein Geruch oder ein Geräusch an das Ursprungstrauma erinnert, unangenehme Gefühle oder Panik aufkommen – für den oder die Betroffene scheinbar aus dem Nichts. Im Rahmen einer Trauma-Therapie kann es zur Integration der aufgesplitteten Erinnerung kommen.
Die Istanbul-Konvention ist in Österreich gültiges Recht. Erhebt ein Kind oder eine Frau im Rahmen eines Pflegschaftsverfahrens den Vorwurf von häuslicher oder sexueller Gewalt durch den anderen Elternteil, so sind Kind und Frau zu schützen. Der Schutz der Opfer hat Vorrang vor Sorge- und Kontaktrecht. Das bedeutet, dass (unbegleitete) Kontakte zum gewalttätigen Elternteil umgehend ausgesetzt werden müssen, bis die Vorwürfe eindeutig geklärt sind. Im Zweifelsfall muss jedenfalls der Opferschutz Vorrang haben. Werden Vorwürfe der häuslichen oder sexuellen Gewalt ohne Prüfung als „Scheinerinnerungen“ abgetan, oder von Gutacher*innen ohne erwiesene Ausbildung im Bereich des Opferschutzes behauptet, so ist das als institutionelle Gewalt zu werten! Das Konzept, das als Verteidigungsstrategie pädokrimineller Eltern entstand, darf nicht zum Totschlagargument gegen Opfer werden!
Sollte das Thema „Scheinerinnerung“ in deinem Gerichtsverfahren auftauchen, informiere Dich gut dazu, wie traumatisches Erinnern funktioniert und wie die Istanbul-Konvention Dich und Dein(e) Kinder schützt. Lass Dich nicht einschüchtern von allzu rasch geäußerten Vermutungen! Lass Dich bei Bedarf gerne bei bei unserer FEM.A Helpline beraten und hole Dir eine kostenlose Erstberatung bei einer unsere spezialisierten Anwältinnen!
Literaturempfehlung: Bessel van der Kolk: Das Trauma in dir, S. 269ff „Enthüllen von Geheimnissen. Das Problem der traumatischen Erinnerung“
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