Der Verrat wird nicht gesehen

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Zwischen 25. November und 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, finden seit 1991 die „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“ statt (siehe auch den letztwöchigen FURCHE-Artikel zur Istanbul-Konvention). Im Rahmen der internationalen Kampagne gibt es auch in Österreich zahlreiche Veranstaltungen. Das Thema „institutionelle Gewalt“ steht heute besonders im Fokus der beteiligten Frauen- und Gewaltschutzvereine. Die Pionierin dieses Forschungsfelds ist Jennifer Freyd, Psychologieprofessorin an der Universität Oregon in den USA, die 2010 das „Center for Institutional Courage“ gegründet hat.

Freyd wurde auch durch ihre eigene Geschichte bekannt. Anfang der 1990er Jahre – rund ein Vierteljahrhundert vor #MeToo – landete ihre persönliche Missbrauchserfahrung gegen ihren Willen in den Medien. Als Reaktion auf die Aussagen seiner Tochter gründete der Beschuldigte, ihr Vater Peter Freyd, die „False Mem­o­ry Syndrom Foundation“, die bis 2019 bestand. Es handelte sich um eine Beratungsstelle für Menschen, denen Missbrauch vorgeworfen wird. Das umstrittene Konzept der „Scheinerinnerungen“ steht dabei im Mittelpunkt. Die FURCHE erwischte Jennifer Freyd an der US-Westküste zum großen Zoom-Interview.

DIE FURCHEFrau Professor Freyd, #MeToo hat den Umgang mit sexuellen Übergriffen in der Gesellschaft wesentlich verändert. Wie war die Situation für Sie, als der familiäre Missbrauch an Ihnen 1993 pu­blik ­wurde?

Jennifer Freyd: Dass meine Geschichte an die Öffentlichkeit kam, war nichts, das ich mir ausgesucht habe. Ich bewundere Menschen, die sich mit ihrer Erfahrung zeigen. Ich persönlich wäre viel zu schüchtern dafür. Was ich damals als besonders schlimm erlebte, war, dass mir viele Menschen nicht glaubten: Ich arbeitete schon an der Universität, parallel wurde ich aber medial wieder zu „Jennifer, der Tochter“. Ich bin sicher, würde meine Geschichte heute – nach #MeToo – pu­blik gemacht, wäre die Rezeption eine ganz andere!

DIE FURCHE: In deutschsprachigen Medien ist seit einiger Zeit eine heftige Diskussion über den Wahrheitsgehalt von traumatischen Erinnerungen entbrannt. Das erinnert frappant an die amerikanischen „Memory Wars“, die durch die Gründung der „False Memory Syndrom Foundation“ ausgelöst wurden. Wie steht es derzeit um diese Auseinandersetzung in den USA?

Freyd: Natürlich gibt es immer noch Menschen, die das Argument der „Scheinerinnerungen“ pushen, besonders als Verteidigungsstrategie in Gerichtsverfahren. Mein Eindruck ist jedoch, dass es nicht mehr wirkt. Das Wissen, dass traumatische Erinnerungen nicht stringent sein müssen und teilweise kommen und gehen, ist mittlerweile weitverbreitet. Zumindest in der Wissenschaft gibt es diesbezüglich schon lange keine Zweifel mehr. Auch die Strategie der Täter-Opfer-Umkehr ist heute in den USA medial bekannt. Opfer, denen ihre Erinnerungen nicht geglaubt werden, wissen mittlerweile, dass es sich um eine gezielte Strategie handeln kann. Ich habe diese Taktik mit einem Konzept beschrieben, das sich mit den fünf Buchstaben ­DARVO abkürzen lässt: verleugnen, angreifen und Opfer und Täter umkehren („Deny, Attack, and Reverse Victim and ­Offender“). Mich wundert eigentlich, dass die Debatte zu Scheinerinnerungen jetzt noch in Europa geführt wird.

DIE FURCHE: In letzter Zeit rückt institutionelle Gewalt zunehmend in das Licht der Öffentlichkeit. Sie befassen sich in Ihrer Forschung mit einem ähnlichen Begriff, dem institutionellem Verrat („institutional betrayal“). Was ist darunter zu verstehen?

Freyd: Institutioneller Verrat tritt auf, wenn die Institution, der Sie vertrauen oder von der Sie abhängig sind, Sie schlecht behandelt. Das kann ganz offensichtlich passieren, etwa wenn eine Regierung Kinder an der Grenze dazu zwingt, von ihren Eltern getrennt zu werden. Es kann aber auch weniger offensichtlich sein. Im Prinzip betrifft es jedes Versäumnis, Sie in einer Situation zu schützen, in der Sie ganz selbstverständlich und zu Recht davon ausgehen, Schutz zu erhalten. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Mitarbeiter angibt, sexuell belästigt zu werden – danach aber weiter Opfer bleibt. Der Arbeitgeber hätte die Pflicht, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen; sonst ist das in­stitutioneller Verrat. Als ich vor vielen Jahren begann, in diese Richtung zu forschen, interessierten mich zunächst Genozide, zum Beispiel gegenüber den Native Americans: Ich finde, dass wir hier ähnliche Mechanismen sehen wie bei institutionellem Verrat – nur eben in viel größerem Maßstab und gegen eine ganze Gruppe gerichtet.

Institutioneller Mut erfordert echte Umstellungen. Bisher habe ich noch keine Einrichtung gesehen, die das über zumindest zehn Jahre durchhält.

DIE FURCHE: Wo sehen Sie den Unterschied zwischen institutioneller Gewalt und institutionellem Verrat?

Freyd: Menschen verstehen unterschiedliche Dinge unter Gewalt, von Schlägen, Schubsen etc. bis zu psychischer Gewalt wie Beleidigungen, Erniedrigungen etc. Ich habe mich zu Beginn meiner Forschungstätigkeit mit sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie befasst und hier das Konzept des „Verratstraumas“ entwickelt. In beiden Fällen – in der Familie wie in der Institution – geht es im Grunde um dasselbe: den Kontrast zwischen der Schutzpflicht und dem tatsächlichen Verhalten. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist auch die „Verratsblindheit“: Der Verrat wird nicht gesehen, um die Beziehung zum Täter zu schützen.

DIE FURCHE: Wie sind Sie auf das Thema des institutionellen Verrats gestoßen?

Freyd: Meine Doktoranden und ich führten in den 2000er Jahren mehrere Studien zu sexuellen Übergriffen unter Studierenden durch. Die Übergriffe passierten zum Beispiel während gemeinsamer Sportaktivitäten oder in der Musicalgruppe. Für die Befragung entwickelten wir das „Institutional Betrayal Questionnaire“ (IBQ). Ich war komplett überrascht: Es zeigte sich, dass unter den Betroffenen rund 40 Prozent auch Erfahrungen mit institutionellem Verrat gemacht hatten. Außerdem war die allgemeine Gesundheit jener Personen, die zusätzlich zum Missbrauch institutionellen Verrat erlebt hatten, um vieles schlechter als jene derer, die Unterstützung erhielten. Häufige Symptome waren Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Kurzatmigkeit. In einer Folgestudie beim Militär eines anderen Forschers sagten Betroffene, dass der institutionelle Verrat für sie sogar schlimmer gewesen sei als die Vergewaltigung selbst.

DIE FURCHE: Sie erwähnten den für Ihre Forschung entwickelten Fragebogen „Institutional Betrayal Questionnaire“ – kurz IBQ: Ist das ein Werkzeug, das sich ganz konkret in der Praxis von Firmen, Universitäten, der Polizei oder in der Justiz anwenden lässt?

Freyd: Das IBQ ist zwar prinzipiell ein Forschungsinstrument, kann aber auch in der Praxis als Leitfaden verwendet werden. Es handelt sich dabei um eine Art Checkliste mit zehn Punkten, die momentan noch auf sexuelle Übergriffe zugeschnitten sind. Institutioneller Verrat kann sich aber auch auf andere Bereiche beziehen, an die man zuerst nicht denken würde, z. B. die Unterbezahlung von Frauen – Stichwort Gender-Pay-Gap. Das IBQ misst, ob eine Institution es schafft, Präventionsmaßnahmen zu setzen, um sexuelle Übergriffe zu vermeiden. Ebenso lässt sich damit erfassen, wie rasch und hilfreich die Einrichtung auf solche Vorfälle reagiert. Im Prinzip hat also jeder Arbeitgeber die Möglichkeit, sich unkompliziert mit dem Thema auseinanderzusetzen. In der Praxis sehen wir leider, dass dies oft nur jene Menschen in einer Einrichtung tun, die nicht an den Schalthebeln sitzen, sprich die Angestellten. Für eine Veränderung müssten jedoch die Obersten die Verantwortung übernehmen und ihre Institution in diese Richtung hin überprüfen.

DIE FURCHE: Gibt es das Vorzeigebeispiel eines Arbeitgebers, wo dies geglückt ist?

Freyd: Ich bin vorsichtig, Namen zu nennen, denn der Kampf gegen institutionellen Verrat ist ein konstanter Prozess. Wenn Sie Ihre Gesundheit verbessern wollen, reicht es auch nicht, für zwei Monate gesünder zu essen. Institutioneller Mut erfordert echte Umstellungen: Es gilt, Strukturen aufzubauen und die Entwicklung regelmäßig zu überwachen. Bisher habe ich noch keine Einrichtung gesehen, die das über zumindest zehn Jahre durchhält. Ein Ziel des von mir gegründeten „Center for Institutional Cour­age“ ist es daher, die Aufmerksamkeit immer wieder medial auf das Thema zu lenken und Bildungsarbeit zu leisten.

DIE FURCHE: Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Dynamik von #MeToo nachlässt und wir gesellschaftlich einen „backlash“ erleben. Wie beurteilen Sie die Situation in den USA?

Freyd: Die Dynamik hält an. Es gibt nach wie vor viele Menschen, die über sexuelle Übergriffe berichten. Was mir jedoch auffällt: Es ist offenbar leichter, Verständnis zu bekommen für sexuelle Übergriffe, die im Erwachsenenalter – vor allem im Arbeitskontext – passieren, als für Missbrauch im Kindesalter. Früh traumatisierte Menschen haben es offensichtlich weiterhin schwer, Gehör zu finden.

DIE FURCHE: Warum finden Kindheits­erinnerungen hier weniger Gehör?

Freyd: In der Gesellschaft gibt es nach wie vor einen großen Verdrängungs­reflex, was dieses Thema betrifft. Doch wir haben mittlerweile Studien, die belegen, dass ein Drittel aller Mädchen sexuelle Übergriffe der einen oder anderen Art erlebt. Viele Menschen wollen sexuellen Missbrauch an Kindern nicht sehen. Und niemand möchte glauben, dass jemand, den man gut kennt – ein Familienmitglied, ein Arbeitskollege –, so etwas getan hat. Die meisten überfordert das. Die Frage „Wie soll ich weiter mit diesem Kollegen umgehen?“ ist schwer zu lösen. Ist es da nicht viel leichter, das Ganze einfach wegzuschieben? Dabei ist sexueller und anderer Missbrauch an Kindern der Grund für die größten Probleme in der Welt: Denn einige der Missbrauchten kommen später in hohe Positionen und nutzen ihre Macht auf schädigende Weise. Wenn wir das Missbrauchsproblem in der Familie lösen könnten, würden wir in einer besseren Welt leben! Ich bin dennoch optimistisch: Menschen haben nicht nur eine Neigung, zu verleugnen; es gibt auch eine große Sehnsucht nach Fairness.

Missbrauch an Kindern ist der Grund für die größten Probleme. Denn einige der Missbrauchten kommen in hohe Positionen und nutzen ihre Macht auf schädigende Weise.

DIE FURCHE: Gibt es das Vorzeigebeispiel eines Arbeitgebers, wo dies geglückt ist?

Freyd: Ich bin vorsichtig, Namen zu nennen, denn der Kampf gegen institutionellen Verrat ist ein konstanter Prozess. Wenn Sie Ihre Gesundheit verbessern wollen, reicht es auch nicht, für zwei Monate gesünder zu essen. Institutioneller Mut erfordert echte Umstellungen: Es gilt, Strukturen aufzubauen und die Entwicklung regelmäßig zu überwachen. Bisher habe ich noch keine Einrichtung gesehen, die das über zumindest zehn Jahre durchhält. Ein Ziel des von mir gegründeten „Center for Institutional Cour­age“ ist es daher, die Aufmerksamkeit immer wieder medial auf das Thema zu lenken und Bildungsarbeit zu leisten.

DIE FURCHE: Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Dynamik von #MeToo nachlässt und wir gesellschaftlich einen „backlash“ erleben. Wie beurteilen Sie die Situation in den USA?

Freyd: Die Dynamik hält an. Es gibt nach wie vor viele Menschen, die über sexuelle Übergriffe berichten. Was mir jedoch auffällt: Es ist offenbar leichter, Verständnis zu bekommen für sexuelle Übergriffe, die im Erwachsenenalter – vor allem im Arbeitskontext – passieren, als für Missbrauch im Kindesalter. Früh traumatisierte Menschen haben es offensichtlich weiterhin schwer, Gehör zu finden.

DIE FURCHE: Warum finden Kindheits­erinnerungen hier weniger Gehör?

Freyd: In der Gesellschaft gibt es nach wie vor einen großen Verdrängungs­reflex, was dieses Thema betrifft. Doch wir haben mittlerweile Studien, die belegen, dass ein Drittel aller Mädchen sexuelle Übergriffe der einen oder anderen Art erlebt. Viele Menschen wollen sexuellen Missbrauch an Kindern nicht sehen. Und niemand möchte glauben, dass jemand, den man gut kennt – ein Familienmitglied, ein Arbeitskollege –, so etwas getan hat. Die meisten überfordert das. Die Frage „Wie soll ich weiter mit diesem Kollegen umgehen?“ ist schwer zu lösen. Ist es da nicht viel leichter, das Ganze einfach wegzuschieben? Dabei ist sexueller und anderer Missbrauch an Kindern der Grund für die größten Probleme in der Welt: Denn einige der Missbrauchten kommen später in hohe Positionen und nutzen ihre Macht auf schädigende Weise. Wenn wir das Missbrauchsproblem in der Familie lösen könnten, würden wir in einer besseren Welt leben! Ich bin dennoch optimistisch: Menschen haben nicht nur eine Neigung, zu verleugnen; es gibt auch eine große Sehnsucht nach Fairness.

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