Die Istanbul-Konvention

Rechtsnormen zur Verhinderung von Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt in Europa

von Rosa Logar

1. Einleitung

Jede dritte Frau in Europa ist zumindest einmal in ihrem erwachsenen Leben von körperlicher oder sexueller Gewalt betroffen, so das Ergebnis der neuen, von der Grundrechtsagentur der Europäischen Union durchgeführten repräsentativen Untersuchung, in deren Rahmen 42.000 Frauen in den 28 EU-Staaten in persönlichen Interviews be- fragt wurden (European Union Agency for Fundamental Rights 2014, 22). Das sind ungefähr 62 Millionen Frauen. Obwohl frühere, in einzelnen Ländern durchgeführte Untersuchungen ähnliche Ergebnisse zeigten, war das Ergebnis dieser weltweit größten, länderübergreifenden Studie doch schockierend. Anlass zu Besorgnis gibt auch ein anderes Ergebnis der Studie: 86 % der befragten Frauen berichteten, selbst die schwerste Gewalterfahrungen durch den Partner nicht angezeigt zu haben, nur 14 % erstatteten eine Anzeige. Als Gründe gaben Opfer an, dass Verlegenheit, Scham und Angst aus- schlaggebend dafür waren, dass sie keine Anzeige erstatteten (ebd 55).

Die Studie zeigt, dass das Ausmaß der Gewalt an Frauen noch immer erschreckend hoch ist und die bisher gesetzten Maßnahmen zur Eindämmung dieses Problems nicht ausreichen. Hier setzt die Konvention des Europarates zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt (idF Istanbul-Konvention oder Konventi- on) aus dem Jahr 2011 an: Die Konvention ist das erste rechtlich bindende, umfassende internationale Normenwerk und hat das Potential ein Meilenstein in der Bekämpfung von Gewalt an Frauen1 zu werden – vorausgesetzt, sie wird entsprechend umgesetzt. Die Autorin hat die Konvention nicht nur als fertiges Dokument kennengelernt, sondern aktiv an ihrer Entstehung mitgewirkt. Als Vertreterin der Frauenministerin war sie Mitglied des Komitees, das den Text der Konvention verhandelte und konnte österreichische Erfahrungen einbringen.

Dies ist auch Beispiel für das „Erfolgsrezept“ zur Prävention von Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt in Österreich, nämlich die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Regierung und Frauenorganisationen. Diese Zusammenarbeit ist nicht immer konfliktfrei, jedoch ist gerade eine offene Konfliktkultur, die Gegensätze nicht unter den Tisch kehrt, sondern zum Gegenstand von Diskussion und Verhandlung macht, notwendig um sozialen Wandel zu erreichen.

Österreich konnte in den Verhandlungen zur Istanbul-Konvention wertvolle Erfahrungen einbringen; ist es doch mit seinen Maßnahmen zur Prävention von Gewalt an Frau- en und häuslicher Gewalt zum Vorbild in Europa und international geworden.Die internationale Anerkennung darf jedoch nicht dazu verleiten sich auszuruhen, denn auch in Österreich gibt es noch viel Verbesserungsbedarf; auch hier ist zumindest jede fünfte Frau ab dem 16. Lebensjahr von körperlicher oder sexueller Gewalt betroffen, auch hier scheuen Frauen davor zurück, Schläge durch den Ehemann oder eine Verge- waltigung durch den Freund anzuzeigen. Aktuelle Mordfälle an Frauen und Kindern zeigen, dass es in der Zusammenarbeit der Behörden noch erschreckende und gefährli- che Lücken gibt (vgl Logar 2014).

Die Istanbul-Konvention, die von Österreich bereits ratifiziert wurde, ist nun umzusetzen, sie wird für den verbesserten Schutzes und die Prävention von Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt wichtige Impulse geben.

2. Der Europarat und die Entstehungsgeschichte der Istanbul-Konvention

Der Europarat ist eine internationale Organisation mit 47 Mitgliedstaaten und besteht seit 1949. Die wichtigste Grundlage der Arbeit ist die Europäische Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1950. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) überwacht die Einhaltung der Menschenrechtsstandards, BürgerInnen können ihn anrufen, wenn sie sich in der Ausübung ihrer Menschenrechte verletzt sehen. In den letzten Jahren wurden mehrere Fälle von Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt, darunter mehrere Morde, an den EGMR herangetragen, der dazu richtungsweisende Entscheidungen getroffen hat (siehe Kapitel 6.).

Zwei der zahlreichen Übereinkommen des Europarates sind auch für das Thema Gewalt relevant: die Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels (2005) sowie das Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (2007). Eine umfassende Konvention zur Verhinderung von Gewalt an Frauen existierte jedoch bis zur Annahme der Istanbul-Konvention 2011 nicht.

Der Istanbul-Konvention gingen mehr als zehn Jahre intensiver Arbeit des Europarates zur Prävention von Gewalt an Frauen voraus. Im Jahr 2002 wurde die Empfehlung (2002) des MinisterInnenrats vom 30.4.2002 zum Schutz von Frauen vor Gewalt angenommen. Diese umfasst eine Reihe konkreter Maßnahmen wie zB sofortige und

  • Zum Gewaltschutz in Österreich vgl Haller; zur Praxis der juristischen Prozessbegleitung in Österreich vgl Aziz; zu täterbezogenen Maßnahmen vgl Logar/Kraus; alle Beiträge in der vorliegenden Ausgabe des juridikum.

umfassende Hilfe für alle Betroffenen ohne Diskriminierung, inklusive medizinischer Hilfe und forensischer Untersuchungen, war jedoch nicht rechtlich bindend. Im Jahr 2005 wurde beschlossen eine Kampagne zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen durch- zuführen. Eine Gruppe von acht ExpertInnen, zu der auch die Autorin zählte, wurde nominiert um die Kampagne fachlich zu begleiten.3 Die Kampagne wurde von 2006 bis 2008 mit dem Schwerpunkt häusliche Gewalt an Frauen durchgeführt, da dies die häu- figste Form von Gewalt ist, die Frauen in europäischen Ländern erleben.

Die Kampagne machte das Ausmaß von Gewalt an Frauen in Europa und die Notwendigkeit der Fortsetzung des Engagements dagegen deutlich sichtbar. Verschiedene AkteurInnen, wie zB die Parlamentarische Versammlung des Europarates, die eine sehr aktive Rolle in der Kampagne eingenommen hatte, setzten sich für die Fortsetzung ein und schlugen die Einführung eines eigenen Übereinkommens vor; auch die ExpertInnengruppe empfahl dies, um rechtlich bindende Normen zur Verhinderung von Gewalt an Frauen zu schaffen. Im Dezember 2008 wurde das Mandat für die Erarbeitung eines Übereinkommen erteilt und die Arbeitsgruppe CAHVIO (Ad Hoc Committee on Preventing and Combating Violence against Women and Domestic Violence) wurde eingesetzt, um den Text der Konvention zu verhandeln.

Die Beratungen dauerten zwei Jahre, da es nicht einfach war die Vorstellungen und Anliegen von 47 Staaten unter in einen gemeinsamen Vorschlag umzuwandeln. Divergenzen gab es zur Frage der Ausrichtung der Konvention, ob diese „geschlechtsneutral“ sein und den Schwerpunkt auf häuslicher Gewalt haben sollte, oder ob Gewalt an Frauen und Mädchen im Mittelpunkt stehen sollte.

Viele Mitglieder (ua Österreich) waren der Meinung, dass eine „geschlechtsneutrale“ Konvention keinen Sinn machen würde, da Gewalt an Frauen mit der Geschlechterrolle der Frauen in der Gesellschaft zu tun hat. Ein „neutraler“ Zugang würde nicht in der Lage sein an die Wurzel des Problems zu gehen. Es gab jedoch auch eine Gruppe, die einen „geschlechtsneutralen“ Ansatz bevorzugte. Schließlich gelang es nach teilweise zähen Verhandlungen eine Lösung zu finden, der alle zustimmen konnten, ohne die spezifische Gewaltbetroffenheit von Frauen zu leugnen. So wird zB in der Präambel darauf verwiesen, dass Frauen unverhältnismäßig häufig von häuslicher Gewalt betroffen sind, dass aber männliche Familienmitglieder auch betroffen sein können. Dass es zu einer Einigung kam, ist auch den Bemühungen der Türkei zu verdanken, die sich vehement für ein starkes, die geschlechtsspezifischen Ursachen von Gewalt an Frauen anerkennendes Dokument einsetzte. Die Konvention wurde schließlich im Mai 2011 in Istanbul unter dem Vorsitz Österreichs angenommen.

Die Konvention wurde bis September 2014 von 14 Mitgliedstaaten, darunter auch Österreich, ratifiziert und von 36 weiteren unterzeichnet. Sie trat drei Monate nach der zehnten Ratifizierung am 1. August 2014 in Kraft.

Im Folgenden werden wesentliche Inhalte der Konvention im Bereich des Schutzes von Frauen gegen Gewalt dargestellt. In der Auswahl wird versucht, auf grundlegende Aspekte, insb die grundlegende Verpflichtung der Staaten zu aktivem Opferschutz, ein- zugehen und dabei auch einen Bezug zur Situation in Österreich herzustellen.

3. Geltungsbereich Gewalt an Frauen und Mädchen

Die Konvention ist ein umfassendes Regelwerk mit zwölf Kapiteln und 81 Artikeln. Ihr Geltungsbereich umfasst alle Formen von Gewalt an Frauen, wie zB physische und psychische Gewalt, Vergewaltigung, Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, sexuelle Belästigung und Zwangssterilisierung, einschließlich die Frauen unverhältnismäßig stark betreffende häusliche Gewalt, und ist in diesem Bereich rechtlich bindend (Art 2 Abs 1). Der Schwerpunkt des Übereinkommens liegt also auf allen Formen von Gewalt gegen Frauen; darüber hinaus werden die Vertragsparteien dazu ermutigt, das Übereinkommen auf alle Opfer häuslicher Gewalt anzuwenden. Diese etwas seltsame Regelung bezüglich Geltungsbereich – ein Teil ist rechtlich bindend, ein anderer nicht – ist auf die oben dargelegten unterschiedlichen Ansichten der VerhandlungspartnerInnen zurück- zuführen und stellt den Kompromiss dar, der dazu gefunden wurde. Das Übereinkommen ist in Friedenszeiten sowie während bewaffneter Konflikte anzuwenden (Art 2 Abs 3).

Das Übereinkommen anerkennt den „strukturellen Charakter der Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt sowie [die] Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, über den Frauen in eine untergeordnete Position im Vergleich zu Männern gezwungen werden“ und ortet die Wurzeln der Gewalt in der „Manifestation von historisch ungleichen Machtverhältnissen zwischen Frauen und Männern, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frauen durch Männer führt“ (Präambel).

Gewalt an Frauen wird als spezifische Form von Gewalt definiert, die Frauen erfahren, weil sie Frauen sind, oder von der Frauen überproportional häufig betroffen sind. Es wird anerkannt, dass Gewalt an Frauen eine Form der Diskriminierung darstellt und dass die Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung von Frauen und die Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern Ziel der Konvention ist. Gewalt gegen Frauen wird als Menschenrechtsverletzung definiert und bezeichnet „alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. “ (Art 3 lit a).

Die Konvention enthält auch eine Definition von häuslicher Gewalt als „Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen“ (Art 3 lit b).

Die Konvention umfasst detaillierte Maßnahmen in den Bereichen der „5P’s“(policy, prevention, provision, protection and prosecution – Politik, Prävention, Hilfen für die Betroffenen, Schutz, Strafverfolgung und Sanktionierung von Gewalt). Zur Prävention der Gewalt wird die Implementierung vielfältiger und detaillierter Maßnahmen gefordert, im Bereich des Strafrechtes, aber auch in vielen anderen Rechtsbereichen. Um eini- ge Beispiele zu nennen: Das Dokument die Verpflichtung der mit dem Problem befassten Einrichtungen zur systemischen Einschätzung der Gefährlichkeit und zu koordinierten Schutzmaßnahmen (Art 51); eine Reihe von spezialisierten Hilfen für die Opfer (Kapitel IV), das Recht von Kindern, die ZeugInnen von Gewalt werden, auf Hilfe (Art 26), das Recht von gewaltbetroffenen MigrantInnen auf einen eigenständigen Aufenthalt (Art 59) oder die Anerkennung von geschlechtsspezifischen Asylgründen (Art 60).

4. Umfassende und koordinierte Maßnahmen in Kooperation mit NGOs

Das Übereinkommen legt die Notwendigkeit einer koordinierten und umfassenden Politik zur Prävention von Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt dar, die „die Rechte des Opfers in den Mittelpunkt aller Maßnahmen“ stellt (Art 7). Betont wird auch die Wichtigkeit, alle relevanten AkteurInnen einzubeziehen, insb. auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie Fraueneinrichtungen, Interventionsstellen und Gewaltschutzzentren.

Art 10 erfordert die Einrichtung einer Koordinierungsstelle zur Umsetzung der Konvention. In Österreich koordiniert die Bundesministerin für Bildung und Frauen die Umsetzung der Konvention. Als erster Schritt wurde mit der Erarbeitung eines Aktionsplans gegen Gewalt an Frauen begonnen und eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet. In dieser werden laut Zusage der Bundesministerin ab Herbst 2014 auch Fraueneinrichtungen ständige Mitglieder sein. Die Mitwirkung von Opferschutzeinrichtungen ist notwendig, um die Erfahrungen der Opfer einzubringen, Stärken und Schwächen bestehender Maßnahmen aufzuzeigen und Maßnahmen zu entwickeln.

5. Recht auf ein Leben frei von Gewalt und Prinzip der Nicht-Diskriminierung

Das Übereinkommens betont „das Recht jeder Person, insb von Frauen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich frei von Gewalt zu leben“ und verpflichtet die Vertragsstaaten die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Maßnahmen zu treffen, um dieses Recht zu fördern (Art 4).

Ebenso findet sich an dieser Stelle das Prinzip der Nicht-Diskriminierung. Keine Frau, keine Person darf in der Anwendung der Maßnahmen dieser Konvention benachteiligt

werden. Die Diskriminierungsgründe werden umfassend aufgelistet und inkludieren zB das Verbot von Diskriminierung aufgrund von nationaler oder sozialer Herkunft, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, sexueller Ausrichtung, Alter, Gesundheitszustand, Behinderung oder Aufenthaltsstatus.

In der Umsetzung der Konvention in Österreich wird es notwendig sein zu überprüfen, ob bestehende Maßnahmen Diskriminierungen enthalten und wie diese beseitigt wer- den könnten. Um ein Bespiel zu nennen, das eine besonders verletzliche Opfergruppe betrifft: Frauen mit prekärem oder fehlendem Aufenthaltsstatus und ihre Kinder haben in Österreich oft Probleme, Aufnahme in einem Frauenhaus zu finden. Finanzierungs- vorgaben der öffentlichen Hand erlauben es den Frauenhausträgern oft nicht, diese Frauen und ihre Kinder aufzunehmen und adäquat zu betreuen, insb wenn sie kein gültiges Visum haben. Solche Regelungen verletzen das Recht von Opfern, in einer akuten Situation von Gewalt Schutz zu erhalten, und sind daher als Diskriminierung zu werten. Auch innerhalb Österreichs wird Frauen aufgrund ihrer Herkunft der Zugang zum Frauenhaus verwehrt, etwa wenn Frauen mit Kindern in ein anderes Bundesland flüchten wollen, um sicher zu sein, Mittel jedoch nur für Opfer aus dem eigenen Bundesland gewährt werden. Die für die Finanzierung von Frauenhäusern zuständigen Landesregierungen sind daher gefordert, ihre Regelungen entsprechend anzupassen, um alle Barrieren im Zugang zum Schutz zu eliminieren.

6. Verpflichtung, Opfer aktiv vor Gewalt zu schützen

Das Übereinkommen betont die Sorgfaltspflicht der Staaten im Schutz von Opfern vor Gewalt (Art 5). Die Aufgabe des Staates besteht nicht nur darin, Gewalttaten anzukla- gen und zu sanktionieren, sondern auch und vor allem darin, Gewalttaten zu verhindern (siehe United Nation Special Rapporteur on Violence against Women 2001 und 2014). Dies beinhaltet die Verpflichtung, gefährdete Personen aktiv vor Gewalt zu schützen, insb wenn Opfer – wie häufig bei häuslicher Gewalt – in Gefahr sind, wieder- holt Gewalt zu erleiden, und wenn Faktoren auf eine akute Gefährdung hinweisen (zB bei Morddrohungen).

Das Frauenrechtskomitee der Vereinten Nationen (CEDAW Komitee) hat sich in zwei österreichischen Fällen mit dieser Sorgfaltspflicht des Staates befasst (Goekce v Austria und Yildirim v Austria, 2007), wobei es in beiden Verfahren um Frauen ging, die von ihren Ehemännern ermordet worden waren. In beiden Entscheidungen wurde festgestellt, dass Österreich es angesichts der mehrfachen Misshandlungen und Drohungen, die jeweils von Seiten der Täter gegen die betroffenen Frauen vorgelegen und den Behörden bekannt waren, verabsäumt hat, das Leben der beiden Frauen mit angemessener Sorgfalt zu schützen.

Gegenüber dem Argument Österreichs, „dass eine Festnahme gegenüber dem Recht eines Beschuldigten auf persönliche Freiheit und auf ein faires Verfahren abzuwägen sei“

(Yildirim v Austria, 8.13) hielt das Komitee fest, dass, wenngleich in jedem Einzelfall zu prüfen sei, ob die Verhängung der Untersuchungshaft gerechtfertigt sei, „ die Rechte des Täters nicht an die Stelle der Menschenrechte von Frauen auf Leben und auf physische und psychische Integrität treten können“ (Yildirim sowie Goekce v Austria, 12.1.5).

Das CEDAW Komitee erkannte in seiner Entscheidung an, dass Österreich ein umfassendes Modell des Schutzes bei häuslicher Gewalt eingeführt hat. Jedoch sei das nicht genug, denn jede Frau müsse individuell die praktische Realisierung ihrer Menschen- rechte und Grundfreiheiten genießen können. Daher müsse der politisch Wille, der sich im umfassenden System des Gewaltschutzes in Österreich ausdrückt, auch von den Staatsorganen erfüllt werden, die ebenfalls die Aufgaben haben, die Verpflichtung zur angemessenen Sorgfalt zu erfüllen. Das Komitee formulierte als Konsequenz der beiden Entscheidungen Empfehlungen, die erfüllt werden müssen. Diese umfassen ua die verstärkte Umsetzung und Überwachung der Gewaltschutzgesetze; das Agieren mit angemessener Sorgfalt, um Gewalt an Frauen zu verhindern; Sanktionen für unterbliebenen Schutz; strenge und umgehende strafrechtliche Verfolgung von Tätern im Bereich häuslicher Gewalt; Ausschöpfung von straf- und zivilrechtlichen Möglichkeiten zum Schutz von Opfern bei gefährlichen Drohungen; bessere Koordination zwischen Exekutive und Justiz; routinemäßige Kooperation mit NGOs im Bereich Opferschutz und Intensivierung der Schulung für Justiz und Polizei (Yildirim sowie Goekce v Austria, 12.3).

Auch der EGMR hat in den letzten Jahren mehrere Entscheidungen betreffend Fälle von Gewalt an Frauen getroffen, die richtungsweisend sind (zB Kontrová v Slovakia 2007, Nr 7510/04; Branko Tomašic´ und andere v Croatia 2009, Nr 46598/06; Opuz v Turkey 2009, Nr 33401/02). In der Entscheidung Opuz v Turkey bezieht sich das Gericht aus- führlich auf die beiden österreichischen CEDAW-Fälle, das Argument der Verpflichtung zur angemessenen Sorgfalt im Schutz von Opfern vor Gewalt wird bestärkt. Eine Verantwortung trifft die Behörden insb dann, wenn sie von einer realen und unmittelbaren Gefahr für eine Person wussten oder wissen hätten müssen und wenn sie es verabsäumt haben, ihnen zur Verfügung stehende Maßnahmen zu setzen um Gewalt zu verhindern. In der Umsetzung der Istanbul-Konvention werden die Entscheidungen des EGMR im Bereich Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt daher richtungsweisend sein.

7. Verbesserung des Schutzes vor Gewalt in Österreich notwendig

Aufgrund der CEDAW Entscheidungen wurden in Österreich mehrfache Anstrengungen unternommen um den Schutz von Opfern zu verbessern, doch leider bestehen insb in Fällen von besonderen Gefahrenlagen immer noch Schutzlücken. Nach wie vor wird fälschlicherweise geglaubt, bei schwerer oder wiederholter Gewalt mit einer polizeilichen Wegweisung das Auslangen zu finden und keine U-Haft verhängen zu müssen. Diese Vorgangsweise kostete im Mai 2012 einem 8-jährigen Buben in St. Pölten das Leben, dieser wurde von seinem Vater in der Schule getötet. Obwohl den Behörden eine

Anzeige vorlag, aus der hervorging, dass der Täter die Ehefrau wiederholt misshandelt und sie und die Kinder mit dem Umbringen bedroht hatte, war keine U-Haft verhängt worden. Der Täter hatte drei Tage Zeit, die angedrohte Tat wahr zu machen (siehe Lo- gar 2014).

Angehörige des getöteten Kindes haben wegen mangelhaften Schutzes eine Amtshaftungsklage gegen die Republik Österreich eingebracht. Es ist zu hoffen, dass das Gericht in dieser Klage die Entscheidungen des EGMR beachten und anwenden wird.

Im Bereich des Schutzes von Opfern vor wiederholter und schwerer Gewalt und des dafür notwendigen koordinierten Vorgehens der Behörden gibt es in Österreich noch einiges zu tun. Positiv ist, dass die Erläuterungen zur Regierungsvorlage im Ratifizierungsprozess der Istanbul-Konvention eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz von Opfern und zur umfassenden Erhebungen durch die Strafverfolgungsbehörden enthalten (Erl 2449 d B, XXIV GP, 31f), die nun dringend umzusetzen sind.5

8. Schutz für Kinder und Hilfseinrichtungen

Die Istanbul-Konvention betont, dass Kinder, die ZeugInnen häuslicher Gewalt werden, adäquate Beratung erhalten und dass ihre Rechte und Bedürfnisse bei allen Maßnahmen gebührend berücksichtigt werden müssen (Art 26). Erforderlich ist auch, dass die Gewaltvorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden und die Ausübung dieser Rechte nicht die Sicherheit der Kinder gefährdet (Art 31).

In diesem Bereich besteht in Österreich ebenfalls dringend Handlungsbedarf: Insb seit der Erweiterung der gemeinsamen Obsorge (Kindschafts- und Namensrechtsänderungsgesetz 2013, BGBl I 2013/15) hat sich der Schutz der Kinder, die ZeugInnen von Gewalt werden, leider enorm verschlechtert und das Weiterbestehen der Obsorge beider Eltern nach der Trennung scheint nach den Erfahrungen der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (IST) auch bei Gewalt in der Familie der Regelfall zu wer- den, obwohl vor der Einführung des Gesetzes von maßgeblichen Stellen in der Justiz versichert worden war, dass es bei Gewalt in der Familie keine Obsorge des gewaltausübenden Elternteils geben werde (siehe Logar/Gleirscher 2014).

Ein weiteres Problem besteht darin, dass viele Kinder, die ZeugInnen von Gewalt wer- den, keine Beratung und Unterstützung erhalten. Die IST erhält von der Polizei ca 4.000 Meldungen von Interventionen im Bereich Gewalt gegen Frauen und Gewalt in der Familie im Jahr. Im Jahr 2013 waren in den von der Polizei zugewiesenen Fällen 5.700

  • In Wien besteht seit 2011 das multi-institutionelle Bündnis MARAC, das insb zum Ziel hat, schwere und wiederhol- te Gewalt zu verhindern und den Schutz der Betroffenen zu verbessern; vgl www.interventionsstelle-wien.at/start. asp?id=514 (28.7.2014); im Zuge einer Besprechung der MARAC Steuerungsgruppe im Juni 2014 wurde vom Vertreter des Justizministeriums die Bereitschaft signalisiert, eine Richtlinie für die Ermittlungen und den Schutz von Opfern bei häuslicher Gewalt zu schaffen.

Kinder und Jugendliche ZeugInnen von Gewalt (Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie 2014). Diese benötigen dringend Beratung und Unterstützung, die jedoch aufgrund von fehlenden Ressourcen derzeit nicht erfolgen kann.6

Hilfe für Kinder und Jugendliche, die ZeugInnen von häuslicher Gewalt sind, muss in familienfreundlicher Form erfolgen. Das in der IST entwickelte Konzept zielt darauf ab, das nicht gewaltförmige Familiensystem (verantwortungsvoller Elternteil und Kinder) zu stärken und zu entlasten; dazu gehört, dass Kinder und Jugendliche von eigenen BeraterInnen Hilfe erhalten und dass die Beratung parallel erfolgt, sodass die Familie nicht verschiedene Einrichtungen aufsuchen muss, was eine zusätzliche Belastung für Opfer darstellt. Dieses Prinzip der Hilfe für die Familie an einer Stelle wird auch von der Istanbul-Konvention gefordert. Diese Hilfe ist eine wichtige Präventionsmaßnahme, denn Kinder und Jugendliche, die Gewalt miterleben, haben ein erhöhtes Risiko, später als Erwachsene selbst zu Opfern oder zu Tätern zu werden (vgl Kavemann/Kreyssig 2005; Dlugosch 2009). Das Familienministerium ist hier gefordert, die in der Istanbul- Konvention festgeschriebenen Maßnahmen zu realisieren.

Auch was den Ausbau der Hilfseinrichtungen für die direkt betroffenen Opfer betrifft, gibt es noch Handlungsbedarf, sowohl im Bereich der Frauenhäuser und Beratungsstellen, als auch bei den Interventionsstellen und Gewaltschutzzentren. Dabei ist es not- wendig die Kapazitäten der bestehenden Einrichtungen und die Qualität der Betreuung zu verbessern. Dazu ein Beispiel: In der IST stehen pro Opfer aufgrund der hohen Fall- zahl und der beschränkten Ressourcen durchschnittlich nur 3–4 Stunden pro Jahr an Unterstützung zur Verfügung; das ist zu wenig, um die in der Konvention geforderte adäquate Unterstützung der Opfer zu gewährleisten. Notwendig ist es auch in Regio- nen, die noch schlecht versorgt sind, Einrichtungen aufzubauen; zB gibt es für Frauen im nördlichen Waldviertel kein Frauenhaus.

9. Prävention

Die Istanbul-Konvention widmet der Prävention einen eigenen Abschnitt und listet zahlreiche Maßnahmen auf, die darauf abzielen, soziale und kulturelle Verhaltensmus- ter zu verändern (Art 12). Es ist im Rahmen dieses Artikels nicht möglich, auf den wichtigen Bereich der Prävention näher einzugehen. Eine Maßnahme der Istanbul-Konvention in diesem Bereich soll jedoch genannt werden: Vertragsstaaten müssen Angehörigen von Berufsgruppen, die mit Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt zu tun haben, ein Angebot an geeigneten Aus- und Fortbildungsmaßnahmen bereitstellen (Art 15). Die Themen Gleichstellung von Frauen und Männern, die Auseinandersetzung mit Ge- schlechtsrollenstereotypen und die Beschäftigung mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und mit den Menschenrechten müssen in die Lehrpläne aller relevanten Berufsgruppen aufgenommen werden.

  • Die Beratungssituation in der IST ist selbst für primär betroffene Opfer sehr angespannt; Kinder und Jugendliche die ZeugInnen von Gewalt werden, können nicht betreut werden; ein Ausbau der Hilfen für die Opfer, wie auch im Regierungsübereinkommen (Arbeitsprogramm 2013-2018) vorgesehen, ist daher dringend notwendig.
  • Zur Perspektive einer Opferschutzeinrichtung auf Gewaltschutz in Österreich vgl den Beitrag von Hojas in der vor- liegenden Ausgabe des juridikum.

Hier gibt es in Österreich noch bei vielen Berufsgruppen Defizite, insb im Bereich der Justiz und der Rechtsberufe, aber auch bei Gesundheits- und Sozialberufen. Nur in der Polizei sind Seminare im Umgang mit Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt in der Grundausbildung verankert und werden in Kooperation von Opferschutzeinrichtungen und Polizei durchgeführt.

Die Durchforstung von Aus- und Fortbildungsprogrammen und die Implementierung des Art 15 als Pflichtmodul sollten rasch in Angriff genommen werden.

10. Umsetzung der Konvention und Schlussfolgerung

Wie dargestellt gibt es in Österreich trotz vieler bestehender Maßnahmen noch Handlungsbedarf und zum Teil gefährliche Lücken im System des Schutzes vor Gewalt. Die Verpflichtung zur Implementierung der Istanbul-Konvention ist ein guter Anlass um Verbesserungen einzuführen. Im Rahmen der vorgesehenen Mitarbeit am Aktionsplan der Regierung gegen Gewalt an Frauen und Mädchen werden von der IST in Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen Vorschläge zur Umsetzung der Konvention erarbeitet und eingebracht werden.

Wichtig für die effektive Implementierung und anschließende Evaluierung ist auch, dass Daten und Statistiken vorhanden sind. Dazu wurde von der IST in Zusammenarbeit mit Regierungsstellen eine Arbeitsgruppe „Gender-Stat“ eingerichtet. Von dieser wurden, basierend auf den Vorgaben der Istanbul-Konvention (Art 11, Erläuterungen) Mindeststandards für die Datenerhebung entwickelt, die in allen relevanten Bereichen (Kriminalstatistik, gerichtliche Kriminalstatistik, Verfahrensautomatik Justiz, Polizeistatistik, Statistiken von Hilfseinrichtungen für Opfer etc) implementiert werden sollten (siehe Wiener Interventionsstelle 2014, 6).

Zur Überwachung der Umsetzung der Konvention wird vom Europarat innerhalb des nächsten Jahres eine ExpertInnengruppe eingesetzt, die verschiedene Monitoring-Instrumente anwenden kann, wie Berichte von Regierungen, Informationen von NGOs und Länderbesuche. Die Istanbul-Konvention sieht auch eine Überwachung durch die nationalen Parlamente vor. Im österreichischen Parlamentsbeschluss zur Ratifizierung der Konvention ist eine erste Evaluierung im Jahr 2018 vorgesehen. Es bleiben also vier Jahre Zeit, um Bereiche der Konvention, in denen noch Lücken und Verbesserungsbedarf besteht, umzusetzen und den Schutz und die Hilfen für Frauen und Kinder, die Opfer von Gewalt wurden, weiter zu verbessern. Im Sinne des Rechtes aller Opfer auf ein Leben frei von Gewalt ist es wichtig, dass eine Intensivierung effektiver Maßnahmen und eine Stärkung der Kooperation aller beteiligten Institutionen im Bereich der Ge- waltprävention erfolgt.

Rosa Logar, MA ist Geschäftsführerin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie und Vorsitzende des Europäischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen WAVE; rosa.logar@interventionsstelle-wien.at

Für detaillierte Empfehlungen zu rechtlichen Verbesserungen vgl die Reformvorschläge der Interventionsstellen und Gewaltschutzzentren www.gewaltschutzzentrum.at/ooe/aktuell.htm (24.7.2014).

Literatur

Council of Europe (2008): Council of Europe Task Force to Combat Violence against Women, including Domestic Vio- lence (EG-TFV) – Final Activity Report, Gender Equality, and Anti-Trafficking Division/Directorate General of Human Rights and Legal Affairs, Strasbourg.

Dlugosch, Sandra (2009): Mittendrin oder nur dabei? Miterleben häuslicher Gewalt in der Kindheit und seine Folgen für die Identitätsentwicklung, Wiesbaden.

European Court of Human Rights (2014): Violence against Women Fact sheet, Press Unit, March 2014.

European Union Agency for Fundamental Rights (2014): Violence against Women – An EU wide Survey. Main results, Vienna.

Kavemann, Barbara/Kreyssig, Ulrike (Hg) (2005): Handbuch Kinder und häusliche Gewalt, Berlin: VS Verlag für Sozial- wissenschaften.

Logar, Rosa (2014): Morde kommen selten aus „heiterem Himmel“ – Gefährlichkeits- und Sicherheitsmanagement als Methode zur Prävention von schwerer Gewalt, in: Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (Hg): Tätig- keitsbericht 2013, 18-23, Wien.

Logar, Rosa/ Gleirscher, Katrin (2014): Elternrechte vor Kinderschutz? Erfahrungen mit dem neuen Kindschaftsrecht im Bereich häuslicher Gewalt in: Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (Hg): Tätigkeitsbericht 2013, Wien, 9–17.

Republik Österreich (2013): Arbeitsprogramm der österreichischen Bundesregierung 2013-2018. www.bka.gv.at/Doc- View.axd?CobId=53264 (20.8.2014).

CEDAW 6.8.2007, Sahide Gökce v Austria, Communication No 5/2005, und

CEDAW 10.10.2007, Fatma Yildirim v Austria, Communication No 6/2005. Deutsche Übersetzungen verfügbar auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Frauen: www.bmbf.gv.at/frauen/euint/cedaw.html (21.7.2014).

United National Special Rapporteur on Violence against Women (2011): Summary Paper on the Due Diligence Standard for Violence Against Women, Geneva.

United National Special Rapporteur on Violence against Women (2014): Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Rashida Manjoo, A/HRC/26/38 Geneva.

Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (2014): Tätigkeitsbericht 2013, Wien www.interventionsstelle-wien.at/images/doku/genderstat2013.pdf (24.7.2014).

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