Gemeinsame Obsorge und Doppelresidenz

Positionspapier des Vereins wendepunkt zur gemeinsamen Obsorge und zum Doppelresidenzmodell 

Der Verein wendepunkt betreibt seit bald 30 Jahren die Frauenberatungsstelle und das Frauenhaus in Wiener Neustadt. Darüber hinaus bietet der Verein Psychotherapie auf Krankenschein bzw. zum Sozialtarif an und ist in der Präventions- sowie Sensibilisierungsarbeit tätig. 

„Häusliche Gewalt an Frauen und Kindern“ sowie „Trennung/Scheidung“ sind die häufigsten Themen, mit denen sich Frauen an den wendepunkt wenden. Manchmal geht es um rechtliche Fragestellungen, bei der Mehrzahl der Beratungen steht jedoch das Thema „häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder“ im Vordergrund. 

Gewalttätig zu sein bedeutet, Kontrolle und Macht auf psychischer, physischer, ökonomischer, sexueller und sozialer Ebene über einen anderen Menschen auszuüben. Ein Mann, der seiner Frau bzw. Partnerin gegenüber gewalttätig ist, hört nach einer Trennung nicht damit auf. Im Gegenteil: Die Trennungszeit ist die gefährlichste Zeit für Frauen, wie auch die Statistik der AÖF (Verein autonomer Frauenhäuser) der Frauenmorde belegt. Die Kontrolle seitens eines Mannes über eine Frau kann somit bis in den Tod reichen. 

Seit Einführung der sogenannten „automatischen gemeinsamen Obsorge“ im Rahmen des Kindschafts- und Namensrechtsänderungsgesetzes 2013 ist es für Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, und ihre Kinder schwieriger geworden, sich aus dem gewalttätigen Familiensystem zu lösen. Die Auseinandersetzung mit einem gewalttätigen Ex-Mann bzw. -Partner muss aufgrund gemeinsamer Obsorge in den meisten Fällen weiter geführt werden. Jedes Gespräch zwischen den getrennten Elternteilen stellt dabei einen Kontakt dar, der von Gewalttätern genutzt wird, um ihren Ex-Partnerinnen zu drohen, sie zu erpressen, zu erniedrigen u.v.a.m. Eine weitere Form Gewalt auszuüben besteht häufig darin, dass Väter sich nicht an Vereinbarungen halten (z.B. die Kinder nicht oder zu spät abholen oder zurückbringen). Die Gewalt geht auf diese Weise auch nach einer Trennung weiter, was zu einer großen Belastung bei den betroffenen Frauen führt. 

Doch nicht nur die Mütter sind von der fortdauernden Gewaltausübung betroffen. Kinder, die häusliche Gewalt als ZeugInnen miterleben mussten, sind immer gleichermaßen von Gewalt betroffen. Sie befinden sich in einer Ambivalenz zwischen jenem Anteil ihres Vaters, den sie lieb haben, und dem Teil, der gewalttätig ist. Diese innere Spaltung erleben Kinder auch nach einer Trennung weiter, wenn ihr Vater sich nicht an Vereinbarungen hält, ihre Mutter vor ihnen schlecht macht etc. 

Ein Doppelresidenzmodell mit ständigem Wechsel des Aufenthalts sowie der fortdauernden „gewalttätigen Atmosphäre“ zwischen den Eltern bedeutet für Kinder aus Gewaltbeziehungen permanente Anstrengung und Anspannung. Ihre Aufmerksamkeit und Wachsamkeit ist chronisch erhöht. Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen waren und weiter sind, brauchen aber Klarheit, einen sicheren Ort mit Geborgenheit und viel Ruhe, die für die Auseinandersetzung und Aufarbeitung des Erlebten immense Bedeutung hat. 

Rechte implizieren stets auch Pflichten und Verantwortung. Die Erfahrungen der wendepunkt-Beraterinnen zeigen, dass gewalttätige Männer ihre Rechte zwar klar einfordern, oftmals auch vor dem Hintergrund größerer finanzieller Ressourcen und mit anwaltlicher Vertretung bei Gericht – ganz im Gegensatz zu den weniger vermögenden Frauen. Gleichzeitig übernehmen diese Väter ihre Pflichten nicht und überlassen die Verantwortung weiterhin zur Gänze den Müttern: 

  • Gewalttätige Väter holen ihre Kinder oft nicht pünktlich ab oder bringen sie unpünktlich zu den Müttern zurück. 
  • Gewalttätige Väter erwarten, dass ihre Ex-Partnerinnen ihnen alle Informationen über die Schule bzw. den Kindergarten übermitteln, anstatt sich selbst – so, wie es der Obsorgepflicht entsprechen würde – darum zu kümmern und sich direkt mit Betreuungs- und Bildungseinrichtungen in Verbindung zu setzen. Mütter tun dies ganz selbstverständlich. Erhalten gewalttätige Väter Informationen über Betreuungseinrichtungen nicht von den Müttern, verwenden sie dieses „Versäumnis“ gegen ihre Ex-Partnerinnen. etwa durch das Einbringen von Anträgen bei der Kinder- und Jugendhilfe oder, bei Gericht. 
  • Trotz bestehender arbeitsrechtlicher Möglichkeit gehen gewalttätige Väter im Fall der Erkrankung ihrer Kinder nicht in „Pflegefreistellung“, sondern überlassen diese Pflege ihrer Kinder selbstverständlich ihren Ex-Partnerinnen. 

Aus den genannten Gründen tritt der Verein wendepunkt dafür ein, dass eine gemeinsame Obsorge bzw. das angedachte und derzeit bereits von Gerichten ausgesprochene Doppelresidenzmodell nur dann zum Tragen kommt, 

 wenn es zwischen den Elternteilen eine gut funktionierende Gesprächsbasis gibt 

 und wenn gewährleistet ist, dass es Vätern bei all ihren Entscheidungen um das Wohl ihrer Kinder geht – und nicht um die Austragung persönlicher Konflikte auf der Paarebene. 

Des Weiteren müssen Pflegschaftrichter*Innen verstärkt darauf achten, dass das Doppelresidenzmodell nicht dafür eingesetzt wird, dass gewalttätige Väter keinen Unterhalt zahlen müssen, denn das entspräche einer Fortführung ökonomischer Gewalt. Wenn Mütter weiterhin allen Betreuungspflichten nachkommen, ohne dafür Alimentationszahlungen zur Verfügung zu haben, müssen sie oftmals schlechter bezahlte Teilzeitanstellungen annehmen und befinden sich dadurch finanziell doppelt im Nachteil. 

Der Verein wendepunkt hält daher Modelle der gemeinsamen Elternschaft nur in jenen Fällen für sinnvoll, wo es Eltern gelingt, ihre Pflichten und ihre Verantwortung gleichmäßig aufzuteilen. Im Falle häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder positionieren wir uns klar gegen gemeinsame Obsorge und das Doppelresidenzmodell. Diese Regelungen dürfen niemals dafür missbraucht werden, dass Frauen und Kinder durch fortgesetzte Gewaltausübung gefährdet, belastet und benachteiligt sind. Dafür machen wir uns stark. 

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