Intrafamiliäre Gewalt im Kontakt- und Sorgerechtsverfahren

Ein Fall von Kindeswohlgefährdung im Familiengericht Wo greifen Maßnahmen zum Kinderschutz?

Artikel von Dr.in Ulrike Altendorfer-Kling, veröffentlich in “neuropsychiatrie” Springer Verlag

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund, der seit 30 Jahren bestehenden Diskussion in der Medizin und den Rechtswissenschaften um unbegründete An­schuldigungen und das Vorliegen von begründetem Verdacht auf intrafamiliäre Gewalt in Kontakt- und Sorgerechtsverfahren wird ein Beitrag gebracht, der die Bedeutung der Fokussierung auf den Kinderschutz durch alle Professionist: innen betont.

Der Beitrag beschreibt anhand eines Fallberichts im Zusammenhang mit der Handreiche des Bundesmi­nisteriums für Justiz „Umgang mit Gewalt im Sor­gerechts- und Kontaktrechtsverfahren” die Relevanz des Kinderschutzes in der österreichischen Recht­ sprechung und mit ,welchen Mitteln er untergraben wird. Im Namen der Wissenschaftlichkeit werden ideologische Diagnosen anstatt evidenzbasierter Be­handlungsdiagnosen verwendet

,,Fachkräfte aus Gesundheitswesen, Jugendhilfe, Justiz und Pädagogik sollten im Kinderschutz mit dem Ziel kooperieren, Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -ver­ nachlässigung als solche zu erkennen, festzustellen und zu beenden (vgl. § 3 KKG) “

Im Rahmen der Praxis der Rechtsprechung werden Behandler*innen im psychosozialen, psychosomati­schen und psychotherapeutischen Feld jedoch häu­fig nicht als Zeug:innen anerkannt, weil sie von El­ternteilen oder Patient: innen selbst beeinflusst seien. In Österreich obliegt die Beweiswürdigung dem/der Richter: in und es besteht die Annahme, dass Behand­ler*innen keine objektive Position ihren Patient: in­nen und deren Angehörigen gegenüber einnehmen können. Daher sind fachärztliche oder psychologische Gutachter: innen von entscheidender Bedeutung. Sie haben sich bei ihrer Beeidigung der Objektivität und Unparteilichkeit in der Befundaufnahme und der Ori­entierung an wissenschaftlichen Prinzipien und Stan­dards (,,state of the art”) und deren Anwendung sowie zur kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung bei Gut­achtenserstellung verpflichtet.

Im konkreten Fall handelt es sich um ein Kind mit den Diagnosen Posttraumatische Belastungsstörung nach mutmaßlicher sexualisierter Gewalt, Einkoten und Einnässen im Zusammenhang mit den traumatischen Erlebnissen.

Es wird der Zusammenhang von Gewaltsituationen mit kinderpsychiatrischen Krankheitsbildern und der Verlauf des Sorgerechts- und Kontaktrechtsverfahrens beschrieben. Relevante Rechtsgüter wie der Kindes­ wille, das Kindeswohl, Bindungstoleranz und Gewalt­ schutz werden thematisiert und zur Diskussion ge­ stellt. Es werden Themen wie häusliche, psychische, sexualisierte, institutionelle Gewalt sowie intimer Ter­ror dargestellt.

Der Fallbericht stellt ein Beispiel dar, an dem kinderpsychiatrisch fachärztlich relevante Punkte der im Jänner 2024 herausgekommenen Handreiche des Bundesministeriums für Justiz „Umgang mit Gewalt im Sorgerechts- und Kontaktrechtsverfahren” abge­handelt werden. Sie stellt eine Richtlinie für Pro­fessionist:innen im Bereich der Verfahrensleitung, Begutachtung und Behandlung dar.

Einleitung

Ein wichtiges Aufgabengebiet des Faches Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin wie auch in der Pädiatrie und Kinderchirurgie ist der Kinderschutz vor Gewalt in jeglicher Form. Das schließt verschiedene Gewaltformen ein. Daher ist es von besonderer Relevanz für Behandler:innen, alles genau zu dokumentieren, was an Auffälligkeiten bei der Vorstellung eines Kindes präsentiert und berichtet wird. Die Richter:innen und die Kinder-Jugendhilfe wie auch die Familiengerichtshilfe sind entsprechend der Istanbul Konvention verpflichtet, Hinweisen auf Gewalt in jeglicher Form nachzugehen und die­ se so gut wie möglich aufzuklären.

Im Zweifel sollte die Entscheidung im Sinne des Kindeswohls fallen. Da die Kinderrechte im Verfas­ sungsrang stehen, geht i<indeswohl vor Elternrecht. Hierzu sind auch im Einzelfall Zukunftsprognosen zu stellen. Dies bleibt allerdings in vielen Verfah­ ren unberücksichtigt. Sobald Strafverfahren gegen mutmaßliche Täter:innen eingestellt werden, besteht unter Professionist:innen häufig die irrige Annahme, dass der der Anwendung von Gewalt beschuldigte Elternteil unschuldig sei und die ihm angelastete Tat nicht begangen habe. In der Realität konnte aber wie auch im beschriebenen Fall wegen Mangels an Beweisen dem Beschuldigten keine Schuldhaftig­keit nachgewiesen werden, was bedeutet, dass beides möglich ist. Der Elternteil kann die Tat begangen haben oder eben nicht. Im Sinne des Kinderschutzes sollten daher unbegleitete Besuche unterbleiben und je nach Einzelfallsituation das Sorgerecht des/ des mutmaßlichen Täters/Täterin vorübergehend oder endgültig ausgesetzt werden.

Anhand des geschilderten Fallberichts wird bei­ spielhaft für viele ähnliche Fälle sichtbar, wie im gerichtlichen Prozedere und Vorgehen der Sachver­ständigen der Focus auf andere Themen wie das Eltern-Kind-Entfremdungssyndrom und Bindungs­ toleranz gelenkt und damit das Kindeswohl und der Kinderschutz untergraben werden. Zur besse­ren Nachvollziehbarkeit wurde ein konkretes Beispiel beschrieben. Besonders besorgniserregend dabei ist, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt, son­dern, dass in den vergangenen Jahren europaweit eine Vielzahl von Fällen dokumentiert sind, in denen fami­liengerichtliche Entscheidungen, die dem Kindeswohl widersprechen, getroffen wurden und werden. […]

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