Wie in den meisten westlichen Ländern soll auch das österreichische Familienrecht dem Wohl der Kinder dienen. Was aber, wenn Justitia irrt?
Der Artikel erschien erstmals auf englisch auf “Law without Justice” auf THE VIENNA REVIEW
Es begann in Paris, berühmt für Baguette, den Eiffelturm und die Seine. Und vor allem für seine Romantik. Beth Alexander, damals 22, lag die Welt zu Füßen, als sie vor sieben Jahren zu einem internationalen Studentenwochenende nach Frankreich kam.
Als sie kurz vor ihrem Abschluss an der Cambridge University stand und für ein Masterprogramm an der Columbia University in New York angenommen wurde, wurde sie von einem exotischen, charmanten Arzt aus Wien umgarnt. Es war ihre erste ernsthafte Beziehung. “Mister Right” besuchte sie zweimal in Großbritannien, ihrem Heimatland, und machte ihr dann einen Antrag.
Da beide orthodoxe Juden sind, war es nicht ungewöhnlich, in einem frühen Stadium der Beziehung zu heiraten, und so sagte sie Ja. “Ich habe Columbia aufgegeben, er sagte mir, ich bräuchte es nicht”, erinnert sie sich. Ihre Eltern waren jedoch vorsichtig: “Geh erst einmal dorthin, lerne ihn kennen, ihr kennt euch nicht”, erinnert sich Alexander. “Aber er war sehr überzeugend und sagte meinen Eltern: Ich will mich um Beth kümmern.”
Die große jüdische Hochzeit in ihrer Heimatstadt Manchester folgte im Oktober. “Ich erkannte, dass ich naiv gewesen war. Er war nicht der Mann, den ich so bewundert hatte, er war nicht geeignet für eine Beziehung”, sagte Alexander. “Nach der Hochzeit kam alles ans Licht. Er war körperlich gewalttätig, hinterließ aber nie blaue Flecken.” In der Hoffnung, dass sie sich dadurch näher kommen würden, wurde sie schwanger, und drei Jahre später wurden Zwillingsjungen geboren.
Aber die Dinge waren bei weitem nicht perfekt.
Alexander sagt, dass sie von Anfang an von ihrem Mann körperlich und seelisch misshandelt wurde. Deshalb reichte sie im Februar 2010 die Scheidung ein. Von da an, sagt sie, “wurde der rechtliche Missbrauch sogar noch schlimmer. Es war entsetzlich.”
Laut Alicia Pinkston, einer amerikanischen Beraterin im Konsultationshaus in Wien, ist die ohnehin schon traumatische Erfahrung einer Scheidung oft noch schlimmer, wenn man die Sprache, die Kultur und die Menschen in seinem Heimatland nicht kennt.
Alexanders Fall ist in der jüdischen Gemeinschaft im In- und Ausland zu einer Art “cause celebre” geworden und wurde in den internationalen jüdischen Medien aufgegriffen.
“Das ist kein Fall von klassischer Fremdenfeindlichkeit, das ist ein Fall von Schutz der eigenen Leute. Es handelt sich um eine Perversion des Rechts innerhalb des Rechtssystems”, fasst ein mit dem Fall vertrauter Wiener Rabbiner den juristischen Kampf zusammen, der sich seitdem entfaltet hat.
Dabei wurde unter anderem versucht, Alexander für geisteskrank zu erklären, was dazu führte, dass ihr die Kinder in Anwesenheit der Polizei weggenommen wurden. Sie waren zwei Jahre und zwei Monate alt.
Gefangen in einer Missbrauchsbeziehung
Schon wenige Monate nach der Hochzeit wusste Alexander, dass sie Hilfe brauchte. Vieles von dem, was geschah, würde sie lieber vergessen: die emotionale und körperliche Misshandlung, die mit der Zeit nur noch zunahm: “Ich komme aus einem glücklichen Elternhaus, deshalb habe ich das anfangs nicht erkannt.” Sie hoffte, dass ein Kind ihre schwierige Ehe retten würde: “Ich wurde schwanger, weil ich dachte, er würde sich ändern.
Aber die Dinge wurden nur noch schlimmer.
Da sie die deutsche Sprache noch nicht ganz beherrschte und weder Familie noch Freunde in ihrer Wahlheimat hatte, wusste Alexander nicht, wohin sie sich wenden sollte.
“Das kommt häufig vor”, sagt Dr. Brigitte Birnbaum, eine auf Familienrecht spezialisierte Wiener Rechtsanwältin. Unbekannte Rechtssysteme gehen oft von sehr unterschiedlichen Voraussetzungen aus, was zu Missverständnissen führt, die für AusländerInnen fatal sein können:
“Wenn man kein Netzwerk hat, ist es leichter, aus der Bahn geworfen zu werden”, sagt sie. Alexanders Herangehensweise war anfangs zurückhaltend, was ihre Erziehung widerspiegelte, und das half ihr nicht: “Sie reagierte wie eine Dame, typisch britisch. Sie hat mit niemandem über die häuslichen Konflikte gesprochen, die sie mit ihm hatte. Er hingegen reagierte anders”, so der Wiener Rabbiner.
Natürlich wird nicht jede binationale Trennung so kompliziert wie die von Alexander. Laut Statistik Austria waren 2012 18,9 Prozent der Hochzeiten in Österreich zwischen Österreichern und Nicht-Österreichern. Es gibt keine entsprechende Zahl für Scheidungen, aber angesichts der Gesamtscheidungsrate in Österreich (42,5 Prozent der Ehen im Jahr 2012) wird ein entsprechender Prozentsatz für wahrscheinlich gehalten.
Das internationale Familienrecht ist selbst in der EU nicht einheitlich, was zu Sorgerechtsstreitigkeiten wie der um den jetzt 6-jährigen Oliver zwischen einer österreichischen Mutter und einem dänischen Vater führt: Dänische Gerichte sprachen dem Vater das Sorgerecht zu, österreichische Gerichte der Mutter. Der Vater hatte das Kind 2012 vor den Augen der Mutter entführt.
Es wird “lange dauern”, bis das Familienrecht auf internationaler Ebene integriert ist, sagte Birnbaum: “Natürlich gibt es Versuche, aber es ist schwierig. Das Familienrecht hat in Europa eine lange Tradition, entweder als katholische oder als protestantische Länder.”
Das hätte hier jedoch keine Rolle spielen sollen, denn beide Eltern sind gläubige Juden, eine Tradition, in der Mütter sehr hoch angesehen sind.
“Der Respekt vor der Mutterschaft ist in der jüdischen Kultur tief verwurzelt”, bestätigte der Wiener Rabbiner. Die jüdische Identität selbst ist nämlich matrilinear, d.h. sie wird über die Mutter weitergegeben. Ein Kind, das von einem jüdischen Vater und einer christlichen Mutter geboren wird, gilt zum Beispiel nicht als Jude.
Für die emeritierte Richterin Lilian Hofmeister kommt Alexanders Fall im österreichischen Rechtssystem jedoch nicht überraschend: “Das gilt vor allem bei Sorgerechtsstreitigkeiten um Söhne”, so Richterin Hofmeister. “Es scheint eine neue ‘Faustformel’ zu geben, die besagt: ‘Söhne gehören zu ihren Vätern'”, sagte sie. “Im Zuge meiner Pro-Bono-Tätigkeit bin ich auf Fälle gestoßen, die ich nach meinem Rechtsverständnis nicht für möglich gehalten hätte”, fügte sie hinzu.
Sie kannte zwar nicht alle Details dieses Falles, sagte aber, dass gerade bei Eltern, die ihre Kinder religiös erziehen, die Gerichte oft die Väter den Müttern vorziehen. “Ich habe oft den Eindruck, dass Väter Frauen als Babymaschinen benutzen”, so Dr. Hofmeister, “Sobald das Kind geboren ist, wollen sie die Mutter loswerden(…), bei Ausländern ist es noch einfacher.” Als Sozialkritikerin und Feministin sieht sie die Situation in Österreich als “einen ‘Krieg gegen die Frau als Mutter’, der von den Gerichten noch nicht aufgearbeitet wurde.”
Da die Zwillinge in Österreich geboren wurden, unterliegt Alexanders Fall dem österreichischen Recht: Nach einem 1,5-jährigen Sorgerechtsstreit sprach Richterin Susanne Göttlicher ihrem Mann das volle und sofortige Sorgerecht zu und stützte ihre Entscheidung auf ein psychologisches Gutachten. In diesem Gutachten wurde die Mutter von einem vom Gericht bestellten Psychologen als erziehungsunfähig eingestuft: “Die Mutter hat eingeschränkte Erziehungsfähigkeiten (…) sie interagiert und bindet sich nur unzureichend an ihre Kinder.”
Für Alexander ist das Gutachten gefälscht – ein Vorgang, der gerade in Salzburg für einen Skandal gesorgt hat, wo ein Gerichtspsychologe 13 Gutachten für Gerichte vor allem in Sorgerechtsstreitigkeiten verfasst haben soll, wobei er vorgefertigte Textelemente verwendet und die psychologischen Tests manipuliert hat.
Um zu beweisen, dass das Gutachten falsch war, ließ Alexander sich erneut privat begutachten, was zu einem zweiten, vom Gericht in Auftrag gegebenen Gutachten von Dr. Werner Leixnering führte. Beide Gutachten widersprachen dem ersten Gutachten und stellten fest, dass sie vollkommen gesund und eine gute Mutter sei. Bis heute hat es Richter Göttlicher abgelehnt, diese Berichte als Beweismittel anzuerkennen.
Wegen angeblicher Voreingenommenheit beantragte Alexander im Januar die Ablösung des Richters, wodurch der Fall für fast sechs Monate auf Eis gelegt wurde.
Ein Kampf an zwei Fronten
Die Psychiaterin, die privat mit der Begutachtung von Beth Alexander beauftragt wurde, war DDr. Gabriele Wörgötter, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und gerichtlich beeidete Sachverständige. Oft würden vom Gericht die falschen Sachverständigen ausgewählt, sagte sie:
“Viele Richter kennen den Unterschied zwischen Psychologen und Psychiatern nicht”, so Wörgötter, so dass Gutachten oft von Psychologen verfasst werden, die nicht zwischen einer psychischen Störung – zum Beispiel durch den Verlust der Kinder – und einer psychischen Erkrankung unterscheiden können. “Dies ist kein Einzelfall”, sagte Wörgötter.
Richterin Hofmeister, die auch ehemalige Vorsitzende von “Frauen Rechtsschutz” war, kritisiert auch die Rolle der gerichtlich bestellten Sachverständigen im Allgemeinen:
„In vielen Fällen werden von schwachen Richtern inkompetente Amtssachverständige bestellt”, sagte sie und wies darauf hin, dass die so genannten Sachverständigen oft keine “Experten” auf dem entsprechenden Gebiet sind. Darüber hinaus lässt das österreichische Recht wenig Spielraum für spätere Korrekturen:
“Die Gerichte haben eine rechtlich nicht begründete Abneigung gegen Privatgutachten und akzeptieren sie nicht”, sagte Richter Hofmeister.
Dienstags und jeden zweiten Sonntag
Der Verlust des Sorgerechts hat dazu geführt, dass Alexanders Zwillingsjungen ihre Mutter nur noch jeden Dienstag und jeden zweiten Sonntag sehen, Besuche, die in der Praxis oft vom Vater abgesagt wurden. Jedes Mal muss sie 44 € für die erforderliche Aufsicht bezahlen.
Zwischendurch wurden die Zwillinge, die im Mai vier Jahre alt wurden, von zwei philippinischen Kindermädchen betreut, von denen keines Deutsch und nur eines gebrochen Englisch spricht, so Dr. Willy Weisz, der Alexander bei einem Besuch begleitete.
Die Leidtragenden bei Sorgerechtsstreitigkeiten sind oft die Kinder. “Der Mutter im Beisein der Polizei entrissen zu werden, auch wenn der Vater der beste der Welt ist, ist eine sehr traumatisierende Erfahrung”, erklärt Wörgötter.
Die wichtigste Bezugsperson für Kinder in einem so jungen Alter ist die Mutter, sagte sie, und wenn Kinder ihre Mutter verlieren, muss ein angemessener Ersatz gefunden werden – “sonst kann die erfolgreiche Entwicklung der Kinder stark gestört werden”.
Im Rahmen der Begutachtung Alexanders 2011 durch Dr. Ulrike Willinger wurden auch ihre Kinder untersucht: Mit eineinhalb Jahren zeigten sie deutliche Entwicklungsverzögerungen: “Sie sprechen kaum und haben Schwierigkeiten, mit anderen zu interagieren”, heißt es in dem Gutachten. Alexander schickte mehrere Gefährdungsmeldungen an das Jugendamt, doch nach eigenen Angaben wurde “nichts unternommen”.
Jugendamtssprecherin Herta Staffa wies Alexanders Bedenken zurück und erklärte, dass das Jugendamt ein standardisiertes Verfahren habe, wenn es Benachrichtigungen erhalte: “Ich habe von der zuständigen Regionalstelle gehört, dass es den Kindern gut geht”, sagte sie.
Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass dies nicht der Fall ist. “Die Kinder sind in einem schrecklichen Zustand”, sagte Alexander im Juni. Nachdem er die Kinder im März besucht hatte, gab ein Mitglied der jüdischen Gemeinde und pensionierter Professor der Wirtschaftsuniversität Wien eine offizielle Erklärung ab, in der er bezeugte, dass die Kinder deprimiert wirkten, mit “leeren Gesichtern und leblosen Augen”; sie sahen “verwahrlost” aus und “es fehlte ihnen an elterlicher Liebe und Fürsorge”.
“Obwohl sie Zwillinge sind”, schrieb sie, “scheinen sie nicht miteinander zu kommunizieren”.
Das Personal des Kindergartens hat wiederholte Anfragen nach einem Interview abgelehnt.
Es ist fast zwei Jahre her, dass Alexander das Sorgerecht für ihre Kinder verloren hat. Auf ihrem Blog helpbeth.org haben über 3.000 Unterstützer eine Petition an die österreichische und die britische Regierung unterzeichnet, in der sie eine “faire Gerichtsverhandlung” für ihre beiden Söhne fordern. Viele fragen sich, warum dies noch kein diplomatischer Fall zwischen dem Vereinigten Königreich und Österreich ist.
Die stellvertretende Leiterin der britischen Botschaft in Wien, Helen Pickering, erklärte, man sei über den Fall informiert und habe ihr “Unterstützung und Ratschläge gegeben”, die laut Alexander aus einer Liste englischsprachiger Anwälte und Kontaktinformationen für Verpackungs- und Umzugsfirmen bestanden.
Beth Alexanders Kampf hat inzwischen internationale Medienaufmerksamkeit erregt, zum Beispiel in der Times of Israel und seit kurzem auch in den Australian Jewish News. Im März versammelten sich mehr als hundert Menschen vor der österreichischen Botschaft in London, um auf den Fall aufmerksam zu machen, wie sie in ihrem Blog schreibt.
In Österreich wächst die Unterstützung für Alexander und ihre Kinder: Gerda Frey, die österreichische Vertreterin des Internationalen Rates jüdischer Frauen, hat Alexander getroffen:
“Sie ist eine absolut gesunde, intelligente, liebenswerte Person und eine sehr liebevolle Mutter. Und meine Einschätzung ihrer Notlage ist, dass ihr Unrecht widerfahren ist”, sagte Frey kürzlich in einem Interview. Frey ist auch davon überzeugt, dass die Tatsache, dass sie Ausländerin ist, für Alexander in ihrem Sorgerechtsstreit von Nachteil war und verweist auf die “unverschämten Briefe” des Jugendamtes.
Die beiden Briefe, auf die sie sich bezog, wurden 2011 verschickt und teilten ihr mit, dass sie für ihre beiden Söhne, die jetzt bei ihrem Vater leben, insgesamt 1.116 Euro Unterhalt pro Monat zahlen müsse. Dieser Betrag basierte auf der Annahme des Jugendamts, dass sie als Cambridge-Absolventin “durch die Anwendung ihrer Fähigkeiten 4.000 Euro netto, einschließlich Sonderzahlungen, verdienen könnte.” Das sei eine völlig unrealistische Summe, sagt Frey: “Man muss schon eine sehr hohe Position haben, um so viel zu verdienen. Für eine so junge Frau, die zudem noch Ausländerin ist, ist das unerhört”.
Später änderte das Jugendamt seinen Standpunkt erheblich und schlug stattdessen vor, dass sie auf dem Niveau eines Hilfsarbeiters verdienen könne. Als sie mit den Briefen konfrontiert wurde, bestritt Sprecherin Staffa, dass es einen “persönlichen Ton” gegeben habe, und behauptete lediglich, dass man sich um eine “angemessene Unterstützung für die Kinder” bemühe.
Heute ist die Zukunft von Alexander und ihren Kindern noch immer ungeklärt, und ihr Antrag auf Absetzung des Richters läuft noch immer.
“Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn dieser Fall an ein anderes Gericht mit einem anderen Richter verlegt wird”, sagte der Wiener Rabbiner, “wo alle Beweise berücksichtigt werden, ohne Einfluss von Schlüsselpersonen, die derzeit an diesem Sorgerechtsstreit beteiligt sind.”
Kurz vor Redaktionsschluss erging jedoch eine Entscheidung, mit der Alexanders Antrag auf Verlegung des Gerichtsstandes abgelehnt wurde, mit der Begründung, dass “eine Verlegung des Gerichtsstandes an das Bezirksgericht Josefstadt derzeit nicht im Interesse der Kinder ist”. Doch mit jedem Tag, der vergeht, wächst das juristische Argument, dass die Kinder inzwischen “an ihren Vater gewöhnt” sind, wie die Psychiaterin Wörgötter aus ihrer 15-jährigen Erfahrung als gerichtlich bestellte Sachverständige weiß.
In dem Fall geht es inzwischen um weit mehr als nur um ein – angeblich – falsches Gutachten eines gerichtlich bestellten Sachverständigen oder einen voreingenommenen Richter. Ein sachkundiger Insider, der sowohl Alexander als auch ihren Ehemann kennt, beschreibt die Situation als einen systematischen Justizirrtum:
“Dieser Kampf um das Sorgerecht ist ein Machtspiel, und es ist irrelevant, wie die Beziehung funktionierte oder nicht funktionierte”, sagte er. “Das System ist schuld; wie das Gericht den Fall falsch behandelt hat und wie die soziale Gemeinschaft, jüdisch und nicht-jüdisch, reagiert hat.
Es scheint, als hätten sie alle die beiden 4-jährigen Jungen vergessen.“
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