Wie Kinder und Frauen durch den Regelbedarf diskriminiert werden

Laut Statistik Austria ist mehr als jede 5. Familie in Österreich eine Ein-Eltern-Familie. Das heißt auch, dass jede 5. Familie das Thema Kindesunterhalt betrifft. Insgesamt sind das rund 190.000 Kinder unter 18 Jahren. Etwa die Hälfte davon ist armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Einer der Gründe dafür ist der niedrige Kindesunterhalt. Laut Unterhaltsbefragung 2021 der Statistik Austria bekam nur die Hälfte der Kinder von Alleinerzieher*innen Kindesunterhalt. Diese Kinder bekamen im Schnitt nur etwa ein Drittel der Kinderkosten als Unterhalt, nämlich 304 EUR pro Kind.

Doch warum kommt es zu diesen niedrigen Zahlungen? Wer tiefer in das Thema eintaucht, muss erschrocken feststellen: Diese wichtige Frage, bei der es um die Existenz und Armut von so vielen Kindern und Alleinerzieher*innen, vor allem Müttern geht, ist gesetzlich nicht geregelt. Nur wenige Paragrafen im ABGB halten fest, dass Eltern eine Unterhaltspflicht haben, doch darin lässt sich nichts über die Höhe des Kindesunterhalts finden. Was im Gesetz nicht geregelt ist, das wird über die Rechtsprechung „repariert“ oder geregelt: Am Anfang stehen einzelne Personen, die mit ihrem Gerichtsbeschluss zum Kindesunterhalt nicht zufrieden sind. Wenn sie sich entschließen, den Beschluss anzufechten und bis in die letzte Instanz, also bis zum Obersten Gerichtshof (OGH) zu gehen, dann halten sich in der Regel alle Familienrichter*innen an die Entscheidung (ständige Rechtsprechung). So ist mit der Zeit ein System zur Bemessung des Kindesunterhalts entstanden, das heute allgemein anerkannt und durch viele OGH-Entscheidungen abgesichert ist.

Doch diese, durch die ständige Rechtsprechung gewachsenen Regeln, sind nicht frei von Diskriminierung: Denn nur wer es sich leisten kann, das eigene Anliegen bis vor die letzte Instanz zu bringen und Anwält*innen zu bezahlen, kann das eigene Recht durchsetzen. 91% der Alleinerzieher*innen mit Kindern unter 15 Jahren sind Mütter, die Hälfte davon ist armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Die meisten Mütter haben also keine Möglichkeit, die Unterhaltsansprüche ihrer Kinder durch langwierige und kostspielige Verfahren durchzusetzen. Es sind deshalb vor allem die Anliegen unterhaltspflichtiger Väter, die zum Entstehen der ständigen Rechtsprechung beigetragen haben.

Für den Kindesunterhalt bedeutet das: Wo am Anfang noch der Bedarf des Kindes bei der Bemessung im Zentrum stand, hat sich das System in Folge dahingehend entwickelt, dass nunmehr fast ausschließlich die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen ausschlaggebend ist. Auch das zeitliche Ausmaß der Betreuungsausmaß bestimmt die Höhe des Unterhalts. Betreut ein Elternteil das Kind mehr als einen Tag pro Woche, so können 10% des Unterhalts für jeden weiteren Betreuungstag abgezogen werden, obwohl der Unterhaltspflichtige keine Kosten wie etwa Kindergarten oder Nachmittagsbetreuung übernehmen muss. Der Abschlag wird vom Bezirksgericht meist auch dann zugestanden, wenn die Kinderkosten bei weitem nicht gedeckt sind.

Außerdem gibt es den sogenannte „Regelbedarf“ (auch „Durchschnittsbedarfssätze“): Damit sind die durchschnittlichen Kinderkosten je Altersgruppe für ein Kind gemeint. Diese Kennzahl sollte Familienrichter*innen vor allem dazu dienen, um zu überprüfen, ob der von ihnen bemessene Unterhalt nach der Leistungsfähigkeit (in Prozent des Einkommens) den Bedarf des Kindes decken kann. In der Praxis wird die Messgröße heute nicht mehr dazu verwendet. Viel mehr dient sie der Begrenzung des Unterhalts nach oben:

1) Verdient der unterhaltspflichtige Elternteil sehr viel, dann muss laut ständiger Rechtsprechung nur Kindesunterhalt in der Höhe des doppelten Regelbedarfs, für Kinder ab 10 Jahren das 2,5 – fache des Regelbedarfs an Unterhalt geleistet werden.

2) Sonderbedarf, das sind Ausgaben für das Kind, die über den durchschnittlichen Bedarf hinausgehen, muss nur dann zur Hälfte vom Unterhaltspflichtigen übernommen werden, wenn weniger Kindesunterhalt als der Regelbedarf bezahlt wird (Deckungsmangel). Sonderbedarf wäre zum Beispiel Nachhilfe, Kosten für Psychotherapie, etc.

3) Der Regelbedarf hat auch Einfluss darauf, ob der Familienbonus geteilt werden muss, wenn der Kindesunterhalt nicht in einem Titel festgelegt wurde: Nur für die anteiligen Monate, für die mindestens der Regelbedarf gezahlt wurde, muss der Kindesunterhalt geteilt werden.

4) Auch andere Behörden nehmen, wenn kein Unterhalt festgesetzt wurde, bei Berechnungen oft Zahlungen in Höhe des Regelbedarfs an. Etwa bei der Anspruchsberechnung der Wohnbeihilfe, wenn noch kein Titel erwirkt werden konnte.

Der Regelbedarf dient also weniger als Vergleichsgröße für einen Mindestunterhalt, sondern als Begrenzungsmechanismus, durch den der Kindesunterhalt und sogar staatliche Leistungen verringert werden können. Über den Umweg der ständigen Rechtsprechung erlangt der Regelbedarf jedoch Rechtswirksamkeit. Der Regelbedarf wird auch von anderen Behörden anerkannt, etwa dem Finanzministerium bei der Entscheidung, ob der Familienbonus geteilt werden muss (bei fehlendem Titel), oder aber auch bei der Festsetzung des Kindesunterhalts durch die Kinder- und Jugendhilfe.

Doch wie wird der Regelbedarf errechnet? Während das Konzept des Regelbedarfs allgemein anerkannt ist, gibt es weder eine Berechnungsmethode noch eine gesetzliche Legitimierung. Die Festsetzung dieser Grenze lässt sich auch nicht durch die Rechtsprechung rechtfertigen, es lässt sich auch keine Weisung oder Verordnung dazu finden. Viel mehr haben die Landesgerichte untereinander vereinbart, sich willkürlich auf einen Wert zu einigen. Obwohl seit 2022 auf die Kinderkostenanalyse 2021 der Statistik Austria Bezug genommen wird, legt man auch hier willkürlich andere Maßstäbe an, als es der Realität der Kinder von Alleinerzieher*innen entspricht.

Argumentiert wird durchwegs mit der Berechnungsmethode der Studie: Es werden Äquivalenzzahlen zu Hilfe genommen. Das Grundprinzip ist dabei, zu berechnen, um wie viel mehr ein Haushalt mit Kindern verdienen muss, um denselben Lebensstandard wie ohne Kinder zu erhalten. Man berechnet grob gesagt die Mehrkosten, die durch Kinder entstehen. Dabei werden allerdings die tatsächlichen Verbrauchsausgaben zugrunde gelegt. Es wird also berechnet, wie viel ein Haushalt mit durchschnittlichem Einkommen tatsächlich für Kinder ausgibt. Diese Herangehensweise ist keine hypothetische Modellrechnung, sondern basiert auf empirischen Daten aus realen Haushalten. Die Verbrauchsausgaben werden in groß angelegten Einkommens- und Verbrauchserhebungen erfasst, sodass die ermittelten Kinderkosten eine tatsächliche Durchschnittsgröße für österreichische Haushalte widerspiegeln.

Entscheidend ist: Die Studie stellt nicht die Frage, ob sich Eltern die Kinderkosten tatsächlich leisten können, sondern sie ermittelt, wie viel eine Familie mit einem durchschnittlichen Einkommen für Kinder tatsächlich ausgibt. Das bedeutet, dass hier nicht von einem idealisierten oder fiktiven Bedarf ausgegangen wird, sondern von jenen Ausgaben, die Eltern – unabhängig von ihrer Einkommenshöhe – tatsächlich für ihre Kinder aufbringen.

Die Behauptung, dass diese Berechnung „nicht der unterhaltsrechtlichen Lebensrealität entspricht“, weil das Einkommen der Eltern durch das Kind nicht automatisch steigt, geht am Kern der Problematik vorbei: Die Regelbedarfssätze werden nicht zur Bemessung des Kindesunterhalts herangezogen, sondern lediglich als Vergleichsgröße mit dem durchschnittlichen Bedarf eines Kindes. Der Durchschnittsbedarf orientiert sich eben nicht am Einkommen der Eltern, sondern an den Ausgaben einer Familie mit durchschnittlichem Einkommen. In der Praxis dient der Regelbedarf allenfalls als Begrenzung des Kindesunterhalts nach oben.

Folgen des niedrigen Regelbedarfs durch die niedrige Festsetzung des Regelbedarfs:

  • Wird die Kinderarmut erhöht, weil der Sonderbedarf seltener zugestanden wird.
  • Haben weniger Kinder Zugang zu wichtiger Förderung wie nötigen Therapien, Nachhilfe oder Entwicklungsförderung.
  • Landet mehr Familienbonus beim Unterhaltspflichtigen als bei den Kindern

Dass der Regelbedarf, der auf keiner gesetzlichen Grundlage basiert, nicht an die Ergebnisse der wissenschaftlich ermittelten Kinderkosten aus der Kinderkostenanalyse 2021 angepasst wird, liegt also weniger an methodischen Mängeln der Studie als an einer bewussten politischen Entscheidung der Richter*innenschaft.

Wer profitiert von geringen Regelbedarfssätzen?

In erster Linie profitieren Unterhaltspflichtige, das sind hauptsächlich Väter, von einem geringen Regelbedarf:

Sie müssen nur dann die Hälfte zum Sonderbedarf dazuzahlen, wenn sie weniger als den geringen Regelbedarf zahlen. Außerdem profitieren vor allem wohlhabende Unterhaltspflichtige: Ihre Zahlungen werden durch den geringen Regelbedarf auf einer geringen Höhe begrenzt, obwohl Kinder auch nach der Trennung der Eltern am Lebensstandard ihrer Eltern teilhaben sollten. Für die Gruppe der 6 bis 9-jährigen Kinder liegt die Obergrenze des Kindesunterhalts sogar unter den durchschnittlichen Kinderkosten:

Altersgruppeab 0 J.ab 6 J.ab 10 J.ab 15 J.ab 20 J.
Regelbedarf 2025350440540670770
Kinderkosten 20256119311.2211.5411.890
“Luxusgrenze” 20257008801.3501.6751.925

Für die Begründung des OGH der Begrenzung des Kindesunterhalts nach oben, nämlich dass dies eine „pädagogisch schädliche Überalimentierung“ wäre, finden sich keine Anhaltspunkte in der Wissenschaft. Vor allem kann bei einer Grenze unterhalb oder nahe an den durchschnittlichen Kinderkosten keine Rede davon sein. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass Kinder aus wohlhabenderen Familien bessere Bildungs- und Entwicklungschancen haben, wenn ihnen ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Mit der Deckelung des Kindesunterhalts wird nicht das Kindeswohl geschützt, sondern vielmehr das Vermögen wohlhabender Unterhaltspflichtiger.

Außerdem profitieren Unterhaltspflichtige, die den Kindesunterhalt nicht vor einer Behörde festsetzen ließen, weil sie schon durch geringe Unterhaltszahlungen Anspruch auf den halben Familienbonus haben.

Wer verliert durch den geringen Regelbedarf?

  • In erster Linie schadet der geringe Regelbedarf Kindern aus Trennungsfamilien. Jedes zweite Kind aus einer Ein-Eltern-Familie ist armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Die Familien haben oft weniger Geld für Bildung, Freizeitaktivitäten oder gesundheitliche Sonderausgaben wie Zahnspangen oder Psychotherapie.
  • Betreuende Elternteile (meist Mütter) müssen die zu geringen Unterhaltszahlungen durch ihr eigenes Einkommen wettmachen, wenn das möglich ist. Eigentlich ist vom Gesetz vorgesehen, dass der haushaltsführende Elternteil dadurch schon den Beitrag leistet. Für viele Alleinerzieher*innen, vor allem Mütter, ist es aufgrund es Gender Pay Gap nicht möglich, die fehlenden Unterhaltsleistungen durch eigenes Einkommen auszugleichen. Sie müssen den Fehlbetrag durch Verzicht wettmachen und sind von Frauenarmut betroffen.
  • Auch dem Staat schadet ein geringer Regelbedarf: Je mehr Kinder dadurch in Armut oder Ausgrenzung leben, umso mehr Folgekosten muss der Staat tragen.
  • Außerdem könnte sich das Armutsrisiko für Alleinerzieher*innen und ihre Kinder negativ auf die Geburtenrate auswirken, die bereits jetzt auf ein Allzeittief von 1,31 Kinder pro Frau gefallen ist: Der Kinderwunsch sinkt, da vor allem Frauen als Grund finanzielle Bedenken angeben.

Letztlich ist die geringe Höhe des Regelbedarfs eine bewusste politische Maßnahme, um finanzielle Verpflichtungen für Unterhaltspflichtige, meistens Väter, zu minimieren – auf Kosten der betreuenden Eltern, hauptsächlich Mütter, und ihrer Kinder. Die Ablehnung der Kinderkostenanalyse als Grundlage für den Regelbedarf dient nicht der sachlichen Auseinandersetzung, sondern der Rechtfertigung eines veralteten Unterhaltssystems, das nicht auf das Kindeswohl, sondern auf die Wahrung der Vermögen unterhaltspflichtiger Väter bedacht ist.

FEM.A fordert deshalb:

  • Die Anpassung des Regelbedarfs an die wissenschaftlich ermittelten, valorisierten Kinderkosten aus der Kinderkostenanalyse 2021
  • Die Abschaffung der Obergrenze für den Kindesunterhalt: Kinder haben ein Recht darauf, am Lebensstandard ihrer Eltern teilzuhaben!
  • Eine transparente und gesetzlich verankerte Berechnung des Regelbedarfs

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